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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Kutter, deren rötliche Schatten auf dem Wasser zu tanzen beginnen, als Hartmut daraufschaut. Fünf starke Getränke innerhalb von anderthalb Stunden, und trotzdem hat er nicht das Gefühl, aufhören zu können.
    Vor der Lektüre der dritten Mail tritt er hinaus auf den Balkon. Die Sonne ist verschwunden, auf dem Parkplatz unter ihm gehen die Laternen an. Rechter Hand führt ein Trampelpfad in die nächste Bucht. Die Person, die gerade dort entlanggeht, glaubt er als die blonde Frau aus der Bar zu erkennen, alleine jetzt und mit dem Handy am Ohr. Als Hartmut drinnen sein eigenes Mobiltelefon hervorholt, stellt er fest, dass der Akku fast leer ist. Trotzdem wählt er, lässt sich zweisprachig versichern, dass seine Frau sich freut über Nachrichten nach dem Signalton und schnellstmöglich zurückrufen wird, sucht nach einem Text, flucht und legt wieder auf.
    Katharinas Mail ist entweder grün unterlegt, oder es stimmtetwas nicht mit seinem Bildschirm. Jedenfalls hat sie recherchiert und kommt zu dem Schluss, es sei finanziell machbar, wenn ein paar blaue Flecken ihn nicht schmerzen. Im Internet gebe es Seiten, auf denen er sein Ruhegehalt selbst errechnen könne, zum Beispiel die des Landesamts für Besoldung und Versorgung in Düsseldorf. Bezüglich der Chancen auf Bewilligung wolle sie nicht spekulieren, sondern lieber mit einer Kollegin in der Drei-drei sprechen, die nächste Woche aus dem Urlaub zurückkomme. Es folgt der Hinweis auf eine neben ihrem Computer stehende Weinflasche und dass der Filius das Wochenende bei seinem Vater verbringt. Eigentlich habe sie ihm ihre Erkenntnisse telefonisch präsentieren wollen, aber von seiner Sekretärin die schnippische Auskunft erhalten, Herr Hainbach sei die gesamte Woche außer Haus. ›Darf man fragen, wo Du bist?‹ Den Tolstoi habe sie beiseitegelegt. Zu dick. Sie schließt mit herzlichen Grüßen und der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. ›Deine Katharina.‹
    Hartmut klappt den Laptop zu und geht zurück auf den Balkon. Die letzten hellen Streifen leuchten am Horizont. In der nächsten Bucht glaubt er, den Widerschein eines Feuers zu sehen. Vom Wind verwischte Musik und rhythmisches Händeklatschen wehen von dort herüber.
    Im nächsten Moment hört er den Ton. Ein metallisches Sirren wie damals und wieder auf der linken Seite. Hartmut drückt einen Finger auf sein Ohr und könnte nicht sagen, ob das Geräusch von drinnen oder draußen kommt. Ist das die Trunkenheit? Ein einziges Mal hat er sich auf eine Website verirrt, wo Tinnitus-Patienten ihre Erfahrungen austauschen. Seitdem weiß er, dass der Trick darin besteht, sein Ohrgeräusch nicht als von außen kommende Belästigung zu betrachten, sondern als Stimme des eigenen Selbst. Die dazu rieten, taten es mit dem triumphierenden Stolz der Eingeweihten und schienen tatsächlich eine Art Dialog im Sinn zu haben: Warte nicht auf das Geräusch, sondern wende dich ihm zu und lerne, es zu verstehen. Ruf es an! Sokrates’ Daimon war vielleicht nichts anderes.
    Sobald Hartmut die Augen schließt, wird der Ton lauter. Der Schwindel verstärkt sich. Mit einer Hand greift er nach dem Geländer, mit den Fingern der anderen drückt er auf seinem Ohr herum wie auf den Tasten eines Telefons. Irgendwas, das ihn normalerweise in der Bahn hält, ist auf einmal nicht mehr da. Er spürt sein Schwanken und kann nichts dagegen tun.
    Guten Abend. Könnte ich bitte mit Hartmut Hainbach sprechen?
    Mit einem schnellen Blick versichert er sich, dass der Nachbarbalkon leer ist. Er will das nicht, aber sein Wille stellt in diesem Moment keine relevante Größe dar. Wie ein inneres Vakuum empfindet er die Einsamkeit; die muss er ausmessen und sie ihrer Formlosigkeit berauben, damit sie hörbar und fühlbar wird und sich unterscheidet von einem Geräusch, das es nicht gibt.
    »Es ist dringend«, sagt er halblaut. »Richten Sie ihm aus, der Anruf kommt von ihm selbst.« Seine Stimme klingt dünn gegen das Rauschen in der dunklen Bucht. Nur ein Spaß, sagt er sich und weiß, dass es sinnlos ist, mit sich selbst zu spaßen. Außerdem kennt er den zweifelnden Blick, mit dem Maria und Philippa sein Tun kommentieren würden. Eher peinlich berührt als genervt.
    »Okay. Aber keine Provokationen. Fragen Sie ihn nicht nach seiner Frau, seiner Tochter, seinem Job oder sonst irgendwas, das mit seinem gegenwärtigen Leben zu tun hat.« Als sie einmal richtig böse auf ihn war, hat Philippa auf die Frage, was ihren Sinn für Humor von seinem

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