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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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gerne über sich, oder?« Sie drückt den Kopf weiter gegen die Lehne mit schräg nach oben gerichtetem Blick, als hätte sie Nasenbluten. »Außerdem sind Sie ein verrückter Tänzer. Das klingt wahrscheinlich negativ auf Deutsch, soll aber ein Kompliment sein. Mögen Sie Punk auch?«
    »Ich weiß nicht mal genau, was das ist. Offen gestanden erinnere ich mich auch nicht allzu gut an das Geschehen von gestern Abend.« Im verschwommenen Bild der Nacht sucht er nach seiner Beifahrerin und glaubt, eine abseits im Sand hockende Frauengestalt zu entdecken. Dort, wo die Schatten der Felsen in Dunkelheit übergingen. Sicher ist er nicht.
    »Hat man Sie schon vor holländischen Frauen gewarnt?«, fragt sie. »Frauen meiner Generation? Wir kennen keineScheu, ich meine im Gespräch. Was andere als zu privat oder intim empfinden, um es Unbekannten zu erzählen – wir nicht. Außerdem wissen Sie längst, dass ich vor meinem Freund weglaufe. Beziehungsweise vor meinem Verlobten. Kein Witz.« Mit einer schnellen Bewegung hält sie ihm die Hand mit dem Ring so dicht vors Gesicht, dass Hartmut erschrocken zur Seite ausweicht. »Kaum zurück in Holland, schon in Handschellen.«
    Ihr Handy spielt Ain’t no ..., und sie drückt energisch die Taste.
    »Übrigens kann man die Dinger auch ausschalten«, sagt Hartmut, »jedenfalls konnte man es früher. Mit den neuen Modellen kenne ich mich nicht aus.«
    Demonstrativ drückt sie einen Knopf an der Seite des Telefons und steckt es zurück in ihre Tasche. Dann sieht sie auf ihre leeren Handflächen und sagt: »Sofort fühle ich mich komisch. Sind Sie verheiratet?«
    »Seit zwanzig Jahren.«
    »Haben Sie es je bereut?«
    »Nein.«
    »Aber Sie reisen alleine.«
    »Meine Frau hat in Kopenhagen zu tun. Beruflich. Ich bin auf dem Weg zu meiner Tochter.«
    »Okay. Wie wär’s mit Musik? Es gibt einen CD-Player.«
    »CDs liegen im Handschuhfach.«
    Kurz vor einem kleinen Ort namens Urunquera setzt Hartmut den Blinker und biegt von der Küste ab ins Landesinnere. Sofort wird die Straße schmal und beginnt, bergan zu führen. Eine Gitarre erklingt, dann die rauchige Stimme von Cesária Évora. Eine von Marias Favoritinnen. Hartmut schickt einen anerkennenden Blick zum Beifahrersitz.
    »Gute Wahl. Wenn’s Ihnen recht ist, fahren wir ein Stück durch die Berge. Es ist kein großer Umweg.«
    Wieder nickt Marijke gleichgültig und ohne seinen Blick zu erwidern. Um ihren schlanken Hals liegt ein Kettchen mit mehreren Anhängern, die eher nach Talismanen als nach Schmuck aussehen.
    »Was macht Ihr Verlobter beruflich?«, fragt er.
    »Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, sagen Sie Freund. Er betreibt eine Agentur für alles, was nur wenige Leute interessiert. Konzerte, Kleinkunst, Theater. Hauptsache, es ist randständig. Sie ahnen, wie wir uns kennengelernt haben. Randständiger als unsere Band war, ging es kaum. Danach kam eigentlich nur noch der Abgrund.«
    Die Bemerkung, dass er ihren Freund gestern in der Bar für einen Büromenschen gehalten hat, verkneift er sich. Als hätten sie durch eine unsichtbare Tür ein anderes Zimmer der Welt betreten, verändert die Landschaft ihr Aussehen. Niedrige Steinwälle leiten die Straße durch Wiesen und Weiden, über denen schwarze Greifvögel kreisen. Wohin auch immer sich die Wolken verzogen haben, über ihnen glänzt der Himmel in ungetrübtem Blau. Kurve reiht sich an Kurve. Die Hauswände sind in kräftigen Farben bemalt, viele tragen das asturische Wappen auf der Frontseite.
    »Wenn Sie sich selbst in drei Worten beschreiben sollten«, sagt Marijke, »Adjektive oder Substantive, ganz egal, aber nur drei. Welche wären es?«
    »Das ist nicht leicht.« An manchen Stellen wird die Straße so schmal, dass Hartmut den Fuß vom Gas nimmt, wenn ihnen ein Auto entgegenkommt. »Also, erstens liberal hinsichtlich meiner politischen Einstellung. Was mir in meiner Jugend viel Ärger eingetragen hat. Scheiß Liberaler dürfte das Schimpfwort sein, das ich als Student am häufigsten gehört habe. Es bedeutete, dass ich in Debatten über die Frage ›Reform oder Revolution‹ für Erstere eingetreten bin. Für Sie muss das komisch klingen, wie ›Kugel oder Scheibe‹. Schlimmer als ›liberal‹ war damals nur ›reaktionär‹.«
    »Und die anderen beiden?«
    »Auch wenn es prätentiös klingt, ich bin nun mal Philosoph. Obwohl ich mir auch hätte vorstellen können, Literaturzu studieren. Oder Psychologie. Als Drittes vielleicht was Persönliches. Nachdenklich

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