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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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würde mir gefallen. Meine Frau fände negativ treffender.«
    »Liberaler nachdenklicher Philosoph.« Sie schüttelt den Kopf. »Dass sie nachdenken, kann man von Philosophen erwarten. Und ›liberal‹ ist mir zu schwammig. Was ist mit der Homo-Ehe?«
    »Sie haben kein Auge für Landschaften, oder? Sehen Sie das?« Nach der nächsten Biegung öffnet sich der Blick, und sie schauen auf hellgrünes Land und ein beinahe unwirklich blaues Meer. Er jedenfalls tut das. Marijkes Augen ruhen auf ihm.
    »Sie sind dagegen. Da vorne können Sie mich rauslassen.«
    »Bin ich nicht. Es ist zwar keine Herzensangelegenheit von mir, betrifft aber liberale Grundsätze. Gleiches Recht für alle.«
    »Haschisch?«
    »Hab ich nur ein Mal probiert. Meine Frau raucht es gelegentlich, und es scheint ihr nicht zu schaden. Würde meine Tochter es nehmen, wäre ich dagegen.«
    »Atomkraft?«
    »Ist keine Frage von Liberalität, sondern ein Kalkül von Nutzen und Risiken. Ich glaube, dass die Letzteren überwiegen.«
    »Gut. Wir können jetzt Du sagen.« Seine Beifahrerin wirkt zufrieden und kippt die Lehne ihres Sitzes ein wenig nach hinten. »Meine drei Wörter sind: unabhängig, spontan und mitfühlend. Letzteres schließt Tiere und pflanzliche Lebewesen mit ein.«
    »Nicht aber deinen Freund, der sich in diesem Moment ernsthaft zu sorgen beginnt, weil er dich nicht erreichen kann.«
    »Du fährst zu schnell, willst du uns umbringen«, sagt sie, weil er auf einem geraden Straßenabschnitt in den vierten Gang schaltet.
    Sie folgen dem Verlauf des Río Deva, fahren durch schiefergraue Schluchten und winzige, im Felsenschatten kauerndeDörfer. Einmal zählt Hartmut zwischen zwei Ortsschildern genau drei Häuser. Cesária Évora singt von enttäuschter Liebe, Marijke erzählt von Punk-Musik und warum Lipstick Traces damals ein wichtiges Buch für sie war: weil sie geahnt hatte, dass es um mehr ging als um Krach und Verweigerung. Über einen Graben von zwanzig Jahren hinweg versucht Hartmut, die Landschaft wiederzuerkennen. Sind sie hier entlanggefahren? Gab es die Straße überhaupt schon? Er schaut aus dem Fenster und versucht, sich zurückzuversetzen in die damalige Stille im Auto, aber Marijke redet sich gerade in Rage über Pim Fortuyn, gegen den ihre Band einen Song geschrieben hat, der ein paar Mal im Radio zu hören war.
    »Linke Kirche, wenn ich das höre!« Als Studentin habe sie seine Kolumnen nicht ungern gelesen oder sich jedenfalls herausgefordert gefühlt, aber dann sei alles außer Kontrolle geraten und nach dem Attentat immer schlimmer geworden. Das alte offene Holland, auf das sie stolz gewesen sei, gebe es nur noch in den Köpfen ihrer deutschen Freunde. In Berlin habe man sie komisch angesehen, wenn sie sagte, dass sie Deutschland für das gesündere Land halte. Bekümmert hält sie inne, zuckt mit den Schultern und sieht sich um.
    »Bist du sicher, dass das der Weg nach Santiago ist?«
    »Ein Weg. Wenn du willst, stell ich das Navigationsgerät an.«
    »Nein«, sagt sie. »Es ist gut, unterwegs zu sein, ohne zu wissen, wohin.«
    Gegen Mittag beginnt Hartmut zu bereuen, dass er das Frühstück hat ausfallen lassen. Außerdem würde er gerne die Landschaft betrachten, ohne auf den Verkehr achten zu müssen. Immer wieder rasen Motorräder mit halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihnen vorbei. Am Straßenrand abgestellte Autos machen die Strecke gefährlich schmal. Bei der nächsten Abzweigung folgt er dem Hinweis auf eine Iglesia de Santa Maria Lebeña, zwei Minuten später hält er vor einem sandfarbenen Kirchengebäude. Von Bäumen halb verdeckt, liegt es unterhalb eines Dorfes, das wie Rapa aussähe, wäre es von weniger schroffen und steilen Berghängen umgeben. Nur zwei weitere Fahrzeuge stehen auf dem Parkplatz. Beim Aussteigen empfängt sie mittägliche Stille.
    »Es stimmt, ich hab keinen Sinn für landschaftliche Schönheit. Schon gar nicht in den Bergen.« Marijke lässt den Blick über die Felshänge wandern. Der Himmel ist von einer strahlenden Tiefe, vor der die Berge wie ausgeschnitten wirken. Scharfkantig und nah. »Ich denke immer: Wie kann man hier leben? Landschaftlich bin ich total patriotisch.«
    Neben dem Parkplatz steht eine zum Kiosk umfunktionierte Holzhütte, dessen Betreiber gebannt auf einen Fernseher starrt. Ein handgeschriebenes Schild verspricht Bocadillos. Hartmut bestellt eins mit Schinken, Käse und roter Paprika und setzt sich auf eine zwischen Feigenbäumen stehende Bank. Der Ruf eines

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