Fliehkräfte (German Edition)
hineinhievt und in gebückter Haltung überlegt, was er unterwegs zur Hand haben möchte. Darf er überhaupt schon fahren? Die Schritte in seinem Rücken bemerkt er erst, als sie in geringer Entfernung verharren. Ohne nach hinten zu sehen, richtet Hartmut sich auf und drückt die Kofferraumklappe zu. As a guest of the hotel I was told I don’t need a ticket. Der Satz dürfte so wenig verstanden werden wie alles, was er seit seiner Ankunft auf Englisch gesagt hat, und im Übrigen ist er nicht sicher, ob er die Information am Empfangsschalter korrekt mitbekommen hat.
»Entschuldigung. Kommen Sie vielleicht aus Deutschland, ist das richtig?« Eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.
Als Hartmut sich umdreht, gerät ein Schweißtropfen zwischen das Brillenglas und den an der Fassung befestigten Aufsatz, lässt seine Sicht verschwimmen und ihn so tun, als habe er die Anrede nicht gehört. Zum wiederholten Mal überzeugt er sich, dass er den Zettel mit Philippas Adresse eingesteckt hat. Schon vor der Abfahrt sind seine Schultern verspannt.
»Entschuldigung ...?«
Nachdem er ein paar Mal geblinzelt hat, sieht er sich der jungen Frau gegenüber, die ihm gestern in der Bar aufgefallen ist. Ihr Akzent klingt holländisch. Mit vor der Brust verschränkten Armen steht sie neben dem Auto, als würde sie frösteln. Augenblicklich setzt er eine freundlichere Miene auf.
»Bitte?« Er nimmt die Brille ab und reibt sie am Saum seines Hemdes trocken.
»Ich hab mir gedacht, dass Sie aus Deutschland kommen. Das ...« Sie deutet auf das Kennzeichen seines Wagens, scheint aber nicht auf das entsprechende Wort zu kommen. »Ist das für Bonn?«
»Bonn, ja. Kann ich was für Sie tun?«
»Marijke«, sagt sie unvermittelt und macht mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf ihn zu. »Wir sind uns gestern kurz begegnet.«
»Hartmut Hainbach.« Ihr Händedruck ist angenehm fest, beinahe männlich. Hartmut setzt die Brille wieder auf und spürt einen Schweißtropfen sein Rückgrat entlanglaufen. Über dem Hosenbund verliert sich das Gefühl. »Ich erinnere mich.Dort in der Bar.« Mit dem Kinn zeigt er zur Veranda, wo gerade rote und weiße Sonnenschirme aufgespannt werden.
»Und später noch mal, unten am Wasser.«
Das verletzliche, aber nicht ängstliche Lächeln steht ihr gut. Über ihrer knielangen Hose trägt sie ein rotes T-Shirt, die nackten Füße stecken in Espandrillos, wie auch Philippa sie im Sommer trägt. Ihre Tasche bemerkt er erst, als die Frau einen schnellen Blick zum Eingang des Hotels wirft und sich danach bückt. Eine Handtasche aus gelbem Kunstleder, prall gefüllt.
»Wohin fahren Sie?«, fragt sie.
»Nach Galicien. Santiago de Compostela.«
»Und fahren Sie jetzt sofort los?« Sie hat Sommersprossen im Gesicht und große blaue Augen. Könnte als Delphin-Trainerin arbeiten oder Wattwanderungen für Kinder anbieten, etwas Spielerisches und Zupackendes dieser Art. Schon in der Bar fand er ihren Begleiter zu konventionell für sie – aber der gestrige Abend liegt lange zurück, und an die Nacht erinnert er sich wie an einen unstrukturierten Traum. Feuer und warmer Sand. Getanzt hat er und musste durch brusthohes Wasser waten, weil kein anderer Weg mehr aus der Bucht herausführte. Hat sie ihn dabei beobachtet? Beim Aufwachen haben Sandkörner und Salzrückstände auf seiner Haut gescheuert, und die kleine Wunde an der Wade brannte höllisch. Nach dem Duschen hat er Jod draufgegeben, nun lässt das Brennen langsam nach. Wahrscheinlich ein scharfkantiger Stein im Wasser.
»Wohin wollen Sie?«, fragt er zurück, statt zu antworten.
»Egal, weg.«
»Ich muss noch mal kurz rein. Wenn Sie wollen, können Sie schon einsteigen.« Hartmut macht eine Geste zur Beifahrertür, die so viel besagt wie: Ihre Entscheidung. Dann geht er zurück in den klimatisierten Empfangsbereich. Die Dame hinter der Rezeption, bei der er eben seine Rechnung beglichen hat, lächelt ihm freundlich zu. Aus unsichtbaren Lautsprechern plätschert leise Klaviermusik, fließt über glänzende Bodenkacheln und den Lederbezug unbenutzter Sitzmöbel.
Auf der Herrentoilette wäscht sich Hartmut das Gesicht, knöpft das Hemd zur Hälfte auf und fährt sich mit nassen Händen über Brust und Nacken. Einerseits würde er lieber alleine weiterfahren und sich auf das Wiedersehen mit Philippa freuen, und andererseits gefällt es ihm, einer jungen Frau behilflich zu sein, die vor ihrem Mann davonläuft. Ritterlich und verwegen in einem. Gute Mischung.
Bei
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