Fliehkräfte (German Edition)
Bussards hallt durch die Luft. Oben in den Gassen des Dorfes spielen Kinder. Seine Kopfschmerzen sind verschwunden, das fällt ihm erst jetzt auf.
Mit einem dampfenden Kaffeebecher in der Hand nimmt Marijke neben ihm Platz, rittlings auf derselben Bank. Durch die Blätter fällt geschecktes Sonnenlicht auf ihr Gesicht. Gerne würde er sagen, an wen sie ihn erinnert, aber er will nicht anzüglich klingen. Vermutlich hat sie den Namen Bibi Andersson sowieso nie gehört.
»Was willst du in Santiago machen?«, fragt er stattdessen.
»Nichts Bestimmtes. Ich hab meinem Freund schon häufiger gesagt, irgendwann lauf ich weg, und später komme ich wieder. Der Übergang war zu abrupt für mich. Ich kann nicht plötzlich nur noch sesshaft sein.«
»Das akzeptiert er?«
»Mark ist ein großzügiger und verständnisvoller Mensch. Reifer als ich.«
»Mark. Hast du vor, ihn irgendwann zu heiraten, oder willst du immer wieder weglaufen?«
»Hei-raten«, sagt sie, als könnte man das Wort wie eine Nussschale knacken und den faulen Kern bloßlegen. »Vor ein paarJahren hab ich mir eine Frage gestellt: Wie viele Männer werden sich noch in mich verlieben? Das war kurz nach der Trennung von dem Bassisten, wann sonst fragt man sich so was. Da wusste ich, dass ich älter werde. Meine Eltern haben nie versucht, mich zurückzuhalten, sondern nur gesagt, denk dran, eines Tages ist die Party vorbei.« Sie nippt an ihrem Kaffee und schaut Hartmut in die Augen. Ungeschützt und nicht so, als würden sie einander erst seit zwei Stunden kennen. »Alle Freunde, denen ich die Geschichte erzähle, stellen mir dieselbe Frage: Liebst du ihn? Du nicht, warum?«
»Es geht mich nichts an. Außerdem wählt man sich erst ein Leben und dann den Partner. Das Umgekehrte funktioniert nur in Ausnahmefällen. Auch wenn die meisten Leute es nicht einsehen wollen – Liebe konstituiert keine Ausnahme.«
»Gesprochen wie ein Philosoph«, sagt sie ohne Spott. »Hast du dich daran gehalten? An die Reihenfolge.«
»Ich ja, meine Frau nicht.«
»Deshalb lebt sie jetzt in Kopenhagen.«
»In Berlin. In Kopenhagen gibt ihre Theatergruppe ein Gastspiel. Wenn du selbst in Berlin gewohnt hast, sagt dir der Name Falk Merlinger vielleicht was?«
»Natürlich.«
»Für den arbeitet sie. Früher war sie sogar mal mit ihm zusammen.«
Marijke legt einen Arm auf den Tisch und stützt das Gesicht in die rechte Hand. Möglicherweise ist es eine Eigenart von ihr, Interesse mit Gesten zu zeigen, die auf den Betrachter gelangweilt wirken. Seitlich auf der Stirn sitzt eine kleine sichelförmige Narbe. Als Kind war sie bestimmt ein Wildfang.
»Ich mag seine Stücke nicht«, sagt sie, »aber in Interviews klingt er interessant. Alternde Rebellen haben was. Es ist ein Traum von mir, mit sechzig Jahren drauf zu sein wie Patti Smith. Notfalls alleine, das wäre es wert.«
Zum ersten Mal fragt er sich, wie es wäre, mit ihr zu schlafen. Es würde passen in die Poesie des Augenblicks, sich amhelllichten Tag in einem Hotelzimmer zu lieben und danach das Kennenlernen fortzusetzen. Sonnenstrahlen fielen durch fadenscheinige Gardinen, Marijke könnte die Geschichte zu ihrer Narbe erzählen und er, warum es nicht rebellisch ist, ein Publikum zu bedienen, dessen selbstgerechte Weltsicht der eigenen entspricht. Eigentlich stellt er sich gar nicht den Sex vor, sondern wie es wäre, mit ihr geschlafen zu haben.
»Ich finde«, sagt er, weil sie ihn anschaut, als würden seine Gedanken ihr nicht verborgen bleiben, »du solltest deinen Freund wenigstens anrufen und ihm sagen, wo du bist. Das ist das Mindeste.«
Reflexartig öffnet sie den Mund, um gegen seine Einmischung zu protestieren. Dann klappt sie ihn wieder zu, nimmt das Handy aus der Tasche und geht Richtung Parkplatz. Hartmut sieht ihr nach und beschließt, dass es ausreicht, sich dem Reiz auszusetzen. Besser, als einen Schritt zu tun und zurückgewiesen zu werden. Bevor sie zu sprechen beginnt, dreht sie sich noch einmal nach ihm um, und er winkt ihr unbeholfen zu. Vermutlich wird sie ihrem Freund sagen, sie sei zu einem alten Mann ins Auto gestiegen, der ihr bisher nicht die Hand aufs Knie gelegt habe, und dass sie ihm eigenhändig die Nase brechen werde, sollte er’s doch wagen. Neben einem Baum geht sie in die Hocke, lehnt mit dem Rücken gegen den Stamm und spricht ohne sichtbare Erregung.
Nachdem er sein Sandwich aufgegessen hat, geht er hinunter zur Kirche. Ein schlichtes Gotteshaus mit romanischen Bögen, umgeben von
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