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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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umgehen.« Sie lacht und scheint einen Moment lang versucht, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann richtet sie sich auf und setzt sich wieder zu ihm. »Er sagt, irgendwann muss ich zu meiner Entscheidung stehen. Und dass er nicht ewig warten wird. Nicht ewig heißt natürlich vorerst schon.«
    »Die meisten Männer würden weniger verständnisvoll reagieren.«
    »Weißt du, was ich versuche? Ihn zu lieben für das, was er ist. Nur ihn. Mir nicht zu sagen, dass es Zeit wird, an die Zukunft zu denken. Mich nicht von Ängsten treiben zu lassen. Ich glaube, ihm das schuldig zu sein, er hat es verdient, aber im Ergebnis führt es dazu, dass ich vor ihm weglaufe. Wie verrückt ist das?«
    »So verrückt, wie wenn Männer sagen, ich muss dich verlassen, du bist zu gut für mich. Außerdem ist mir nicht klar, worin der Versuch besteht, jemanden zu lieben. Nach meiner Erfahrung geschieht es entweder von alleine oder gar nicht.«
    Sie stützt beide Hände auf die Sitzfläche, drückt den Rücken durch und sieht ihn an.
    »Du bist in Ordnung, Hartmut. Man kann mit dir reden. Trotzdem glaube ich, dass man versuchen soll, alles zu entdecken, was einen Menschen liebenswert macht. Es ist nicht immer offensichtlich.«
    Bevor er eine Antwort findet, kommt der Mechaniker ums Haus, gefolgt von seinem Hund. Was er Marijke in wenigen Sätzen mitteilt, übersetzt sie Hartmut so: Vorrätig habe er einen neuen Keilriemen nicht. Wenn sie es eilig hätten, sollten sie ihm die Route sagen, dann werde er herausfinden, wo sie das Ersatzteil unterwegs bekommen können. Bis Santiago durchzufahren, halte er für riskant. Er könne den Keilriemen auch selbst bestellen und am späten Abend oder frühen Morgen einbauen. Das sei dann eine Expresslieferung und koste ein paar Euro extra. Während er auf die Antwort wartet, wischt er sich mit einem Lappen über die Finger und fragt sich vermutlich, was die hübsche Blonde und den alten Mann miteinander verbindet.
    »Ich denke, wir suchen uns ein Hotel«, sagt Hartmut. So wie man einen Satz sagt, der keinen Hintergedanken verraten soll. »Was meinst du?«
    Statt zu antworten, übersetzt Marijke seine Worte und deutet nach einem kurzen Wortwechsel den Fluss entlang.
    »Wir sollen eine der Treppen hinter der nächsten Brücke nehmen. An Hotels besteht kein Mangel. Morgen um neun macht die Werkstatt wieder auf.«
    Als der Abend in die Nacht übergeht, sitzen sie in einer Szenerie wie aus van Goghs Café de Nuit . Am Rand der Altstadt, unter freiem Himmel. Schwalben und Fledermäuse flattern durch die Lichtkegel gelb schimmernder Laternen. Aus zwei Lautsprechern über der Tür der Bar kommt leise Musik und vermischt sich mit den Gesprächen anderer Gäste. Was Marijke hierhergeleitet hat, muss die Witterung für ihresgleichen gewesen sein. Nach dem Abendessen auf der Plaza Mayor ist Hartmut seiner Begleiterin durch verwinkelte Gassen gefolgt, unter Brücken und mittelalterlich anmutenden Torbögen hindurch, hinter denen eher eine stille Abtei zu erwarten gewesen wäre als dieses schmale zweistöckige Backsteinhaus, von wildem Wein bewachsen und heimelig auf dieselbe lässige Weise wie das Volk, das sich davor versammelt hat. Die Boheme von Potes.
    Seit einer Stunde sitzen sie nebeneinander auf einer Holzbank und trinken kantabrischen Rotwein. Um sie herum stehen Männer in verwaschenen Trikots und Bermudashorts, Frauen in eigenwilligen Kleidern, mit viel Schmuck in den Haaren und selbstgedrehten Zigaretten. Fast alle haben Hunde dabei. Zum Erzählen aufgelegt, ist Hartmut die Stationen seiner Reise durchgegangen, und seine Begleiterin scheint darauf zu warten, dass eine geheime Agenda sich enthüllt, das verschwiegene Ziel der Fahrt. Den geplanten Jobwechsel hat er nicht erwähnt, aus Angst, sie zu langweilen. Auf seine Frage, ob sie noch etwas essen oder trinken wolle, antwortet ihm entschiedenes Kopfschütteln.
    »Einen Grappa vielleicht oder was immer man hier als Digestif trinkt?«, hakt er nach. Zum Abendessen hat er Chorizo in Apfelweinsauce gegessen, eine lokale Spezialität, deren intensiven Nachgeschmack er jetzt gerne neutralisieren würde.
    »Danke. Ich bin bedient.« Marijke schiebt die Handflächen unter ihre Oberschenkel, betrachtet die Füße in den blauen Espandrillos und gefällt ihm immer besser.
    »Schon den ganzen Tag«, sagt er, »halte ich Ausschau nach Dingen, die mir bekannt vorkommen. Vor über zwanzig Jahren bin ich durch diese Gegend gefahren, zusammen mit meiner Frau. Damals war

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