Fliehkräfte (German Edition)
dieses Leben nicht führen zu müssen. Es war eine Horrorvorstellung.« Er ist so sehr in seine Erzählung vertieft, dass er aufschreckt, als Marijkes ihn fragt: »Was hast du getan?«
»Das war genau die Frage, die ich mir gestellt habe. Was hab ich getan, und was zum Teufel hab ich mir dabei gedacht?« Viele Jahre sind vergangen, seit ihm die Szenen zuletzt mit solcher Klarheit vor Augen standen. Sein Wohn- und Arbeitszimmer in der Kastanienallee. Über dem Sofa hing ein gerahmter Druck von de Chiricos Gare Montparnasse , daneben standen das Tonbandgerät und die Stapel selbst zusammengestellter Bänder. Tereza saß auf dem Boden und wiederholte in einem fort, dass man nicht akzeptieren könne, was man nicht verstehe. Ich kann nicht begreifen, dass du mich nicht liebst, sagte sie. Es war die beste Zeit meines Lebens.
»Die Geschichte hab ich noch nie jemandem erzählt«, sagt er. »Sie hat gefleht und geweint. Ich hab gesagt, dass ich ihr Unterhalt zahle, aber niemals mit ihr und dem Kind zusammenleben werde. Dass eine Abtreibung für sie nicht in Frage kam, wusste ich. Es war dieselbe Zeit, in der Maria und ich uns allmählich nähergekommen sind. Irgendwann musste ich Tereza sagen, dass es eine andere Frau in meinem Leben gibt. Das war der Punkt, an dem sie zusammengebrochen ist. Vorher hat sie sich geweigert zu akzeptieren, was ich ihr sagte, danach war sie wie gelähmt. Hat nur noch apathisch vor sich hin genickt. Ein paar Wochen lang haben wir nichts voneinander gehört, dann rief siean. Wollte mich sehen, aber nicht bei mir zu Hause. Also haben wir uns in einem Café getroffen. Dort meinte sie, sie habe einen Arzttermin und ob ich sie begleiten könne. Ich dachte, es geht um eine Untersuchung. Erst in der Klinik hab ich erfahren, dass es sich um eine Abtreibung handelt. Die notwendigen Beratungen hatte sie schon absolviert und alles in die Wege geleitet. Warum sie mich dabeihaben wollte, weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich, um mir vor Augen zu führen, was ich ihr antue. Oder sie hat gehofft, ich würde im letzten Moment einknicken. Vielleicht war es naheliegend, den Vater mitzunehmen. Keine Ahnung. Jedenfalls hab ich im Wartezimmer gesessen, gefühlte drei Tage lang. Was ich sonst gefühlt habe, weiß ich nicht mehr.« Das Einzige, woran er sich mit einiger Klarheit erinnert, sind die weißen Wände und das gedimmte Licht im Aufwachraum. Die stumme Anklage in ihrem Blick. Als eine Schwester hereinkam und mit ihr sprach, blieben Terezas Augen auf sein Gesicht geheftet, als wollte sie dafür sorgen, dass er diesen Moment sein Leben lang mit sich herumtragen würde.
»Verstehe«, sagt Marijke.
»Weder meine Frau weiß davon noch meine Schwester. Dir wäre es wahrscheinlich auch lieber, es nicht zu wissen. Bald danach bin ich aus Berlin weggezogen, und es gab keinen Kontakt mehr. Wo sie heute lebt, weiß ich nicht. Ich kann nicht ausschließen, dass ich ihr Leben zerstört habe. Oder sie hat die große Liebe getroffen und fünf Kinder bekommen, ich werde es nie erfahren.«
Um sie herum singen manche Leute das Lied aus den Lautsprechern mit, andere begleiten den Gitarristen. Das Nachbarhaus schaut aus zerbrochenen Fensterscheiben zu. ›Se vende‹ steht auf einem Schild im ersten Stock. Marijke sieht auf das Glas in ihren Händen und schweigt.
»Einerseits schäme ich mich«, sagt er, »und andererseits kann ich es nicht bereuen. Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn ich das vermeintlich Richtige getan hätte? Ich weiß es nicht und will es nicht wissen. Auf jeden Fall wäre ich nicht mit Maria verheiratet, und es gäbe unsere Tochter nicht. Für mich reicht das. Das andere kommt manchmal hoch, wenn ich nicht einschlafen kann oder niemanden zum Reden habe. Ehrlich gesagt, nicht mehr allzu oft.« Das Taschentuch, das Marijke ihm reicht, will er zuerst ablehnen und nimmt es dann doch. Überrascht beobachtet er, dass sie sich ebenfalls schnäuzen muss. »Jetzt denkst du, dass ich ein gewissenloser Schuft bin. Ganz sicher hab ich mich damals so verhalten. Alles okay?«
»Geht schon.« Sie knüllt ihr Taschentuch zusammen und steckt es in die Tasche. Ein paar Mal nickt sie stumm vor sich hin. »Es ist merkwürdig, wie manche Konstellationen im Leben einander ähneln. Würde man deine und meine Geschichte übereinanderlegen, ich meine nicht die Geschichten, nur die Figuren – dann würdest du Bass spielen und ich wäre Tereza. Wenn auch ohne Schwangerschaft.«
Er braucht einen Moment, um zu verstehen,
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