Fliehkräfte (German Edition)
sie noch nicht meine Frau. Hatte ich erwähnt, dass sie aus Portugal kommt?«
»Nein.«
»Wir waren auf dem Weg zu ihrer Familie. Im Sommer 86, unsere erste gemeinsame Reise. Wir kamen von der Küste und wollten weiter nach Salamanca. Von dort in die Serra da Estrela.«
»In dem Sommer hatte ich meinen ersten Freund. Er trug eine Zahnspange, und ich hatte Mitleid mit ihm. Aber nur einen Monat lang.« Sie schüttelt sich, als sei die Erinnerung ihr unangenehm. »Heißt das, du bist auf Spurensuche?«
»Nein. Ich erkenne dies und das wieder, die Kirche von heute Mittag zum Beispiel, aber die Gegend kommt mir wenigerbekannt vor, als ich erwartet hatte. Ehrlich gesagt bin ich enttäuscht von meinem Gedächtnis. Die Reise war ein einschneidendes Erlebnis. Irgendwo unterwegs wurde unsere Tochter gezeugt.«
Das lässt seine Gesprächspartnerin aufhorchen.
»Du weißt nicht genau wo?«
»Wir waren frisch verliebt, und hinterher gab es dringendere Fragen zu klären. Es kommen verschiedene Orte in Frage, ich weiß nicht mal welche.«
Als wäre die Musik aus den Lautsprechern nicht genug, beginnt neben ihnen jemand Gitarre zu spielen. Alle anderen Gäste scheinen einander zu kennen. Die Hunde auch. Marijke wirft ihm einen kurzen Blick zu.
»Auf eurer ersten gemeinsamen Reise ...«
»Ungeplant«, sagt er so lapidar wie möglich, »nicht ungewollt.«
Dass hinter ihrer Gesprächsführung psychologisches Geschick steht, ist ihm schon beim Essen aufgefallen. Durch Nicken und kurze Bemerkungen zeigt sie ihr Interesse, ohne ihm das Gefühl zu geben, sie wolle mehr herausfinden, als er von sich aus preisgeben möchte. Dann hakt sie entweder nach, bis ihre Neugierde befriedigt ist, oder sie macht es wie jetzt. Sagt gar nichts, sondern betrachtet die Umgebung und wartet darauf, dass er von sich aus weitererzählt.
»Ich war lange mit einer anderen Frau zusammen«, sagt er. »Einer Südamerikanerin. Meine Frau hatte damals einen festen Freund, den erwähnten Falk Merlinger. Unsere erste Begegnung war zufällig, bis zur zweiten ist über ein Jahr vergangen. Danach haben wir angefangen, uns regelmäßig zu sehen. Merlinger war zu der Zeit ein erfolgloser, frustrierter Dramatiker. Seine Familie lebte in der DDR, er war als Jugendlicher nach West-Berlin gekommen. Ein schwieriger Typ. Es war leichter, Mitleid mit ihm zu haben, als ihn auszuhalten. Meine Frau und er haben in einer Hinterhofwohnung in Kreuzberg gehaust. Ein einziges Zimmer, zu klein für seinen Frust. Ich bin ihm nur ein Mal begegnet, in einer Theaterpause. Er war angewidert von der Inszenierung und hat im Foyer die anderen Zuschauer angepöbelt. Dann ist er abgehauen. Maria und ich haben die Aufführung zu Ende gesehen, so fing es an.«
»Maria«, sagt sie. »Das ist ihr Name?«
»Ja. Sie hat von Kaffee, Zwieback und Zigaretten gelebt. Ich hab sie zum Essen eingeladen und mir die Klagen angehört. Manchmal durfte ich ihre Hand halten, dabei ist es eine ganze Weile geblieben. Damit es nicht nach nachträglicher Verklärung aussieht, füge ich hinzu, dass es nicht einfach ist, jemanden so zu lieben. Es kostet ...«
»Ich weiß«, antwortet Marijke, bevor er das richtige Wort gefunden hat. »Aber du hast sie bekommen. Happy End.«
»Als wir endlich dabei waren, ein Paar zu werden, musste ich wegziehen aus Berlin. Ich dachte, damit wäre alles vorbei. Sie saß noch an ihrer Magisterarbeit. Wir sind in Kontakt geblieben, haben uns ein paar Mal gesehen und im nächsten Jahr die Reise gemacht.« Er lacht. »Man könnte meinen, ich hätte es auf eine Schwangerschaft angelegt, aber es war ein glückliches Versagen der Verhütung.«
Die Bedienung kommt mit einer offenen Flasche. Eine junge Frau mit schwarzer Brille und so langen Haaren, dass sie ihr bis über den Hintern reichen. Beim Einschenken behandelt sie Marijke wie eine alte Bekannte, die diesmal ihren Onkel mitgebracht hat. Geht aufs Haus, sagt sie, wenn er es richtig versteht. Um den Gitarristen haben sich unterdessen Leute versammelt und zu singen begonnen. Zwanzig Jahre sind eine so lange Zeit, dass der Versuch, gedanklich dahinter zurückzutreten, zwangsläufig zu Vermischungen führt. War er über die Nachricht von der Schwangerschaft so froh, wie er jetzt glaubt, oder hat sich das spätere Glück darübergelegt?
»Hast du dich nie eingeengt gefühlt?«, fragt Marijke, als sie wieder alleine sind. »Ich frage aus persönlichem Interesse.«
»Ich habe zwar manches getan, was man so verstehen könnte, aber,
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