Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
was sie meint. Den Bassisten hat sie am Nachmittag lediglich am Rande erwähnt, als einen früheren Freund unter mehreren. Beim Abendessen kam er noch einmal kurz vor. Jetzt schaut sie ihn an und lächelt tapfer.
    »Das hab ich nicht gewusst«, sagt er betreten.
    »Seinetwegen bin ich so lange unterwegs gewesen. Im ersten Jahr konnte ich die Band nur in den Semesterferien begleiten, das war wie Urlaub. Dann hab ich beschlossen, für ein ganzes Jahr zu reisen, und danach bin ich nicht mehr an die Uni zurück. Ich kann gut verstehen, wie man als Paar jahrelang dahinlebt, ohne zu besprechen, wohin es führen soll – bis man eines Tages feststellt, dass es nirgendwohin führt. Es gab Ärger in der Band, und er wollte aussteigen. Okay, hab ich gesagt, steigen wir aus und machen was anderes. Aber das war nicht sein Plan. Inzwischen hat er in Amsterdam einen Plattenladen mit dazugehörigem Café. Außerdem Frau und zwei Kinder. Letztes Jahr hab ich ihn getroffen. Er sah glücklicher aus als je zuvor.« Sie legt den Kopf in den Nacken und leert ihr Glas. Zieht noch einmal die Nase hoch und schüttelt denKopf. »Ich bin müde. Vielleicht sollten wir zurück zum Hotel gehen.«
    Entschieden wehrt er ihr Ansinnen ab, für sich selbst zu bezahlen, und geht nach drinnen. Der Wirt, nicht viel älter und genauso langhaarig wie seine Kollegin, nimmt dankend das Geld entgegen und wünscht eine gute Nacht.
    Mondlicht fällt auf die gepflasterten Gassen. Als Hartmut nach oben schaut, sieht er am Himmel ein leuchtendes weißes Kreuz stehen. Einen Moment lang glaubt er, betrunkener zu sein, als er gedacht hat, dann kommt er darauf, dass es sich um das Gipfelkreuz handeln muss, das er am Nachmittag vom Fluss aus gesehen hat. Er würde gerne etwas Tröstendes sagen, aber ihm fällt nichts ein. Sie ist jünger als er, aber alt genug, um zu wissen, dass manche Dinge im Leben nur ein Mal passieren.
    Die schmalen Gassen setzen sich fort im engen Treppenhaus ihrer Pension. Der Nachtportier hat seine Begrüßung auf ein kurzes Nicken beschränkt und schickt ihnen einen abschätzigen Blick hinterher. Im ersten Stock gibt es vier Türen an jeder Seite des Ganges. Wie Zellentüren. Die letzten beiden gehören ihnen. Einen Moment lang stehen sie unschlüssig davor, halten die Schlüssel in der Hand und betrachten die ockergelbe Tapete.
    »Soll ich dich morgen früh wecken?«, fragt er.
    »Ich wache von alleine auf.« Marijke steckt den Schlüssel ins Schloss und dreht sich noch einmal zu ihm um. Er lächelt. Mit einem schnellen Schritt ist sie da, legt die Arme um seinen Hals und küsst ihn auf die Wange. Dann löst sie sich und huscht ohne ein Wort ins Zimmer.
    »Bis morgen«, flüstert er durch die sich schließende Tür.

1991
    Am ersten Morgen wacht er auf, sobald es draußen dämmert. Durch die hölzernen Läden vor der Balkontür sickert ein blassblau beginnender Tag herein. Maria liegt wie immer auf der Seite, zugedeckt bis zu den Ohren gegen die nächtliche Kühle, und Philippa hat sich schnarchend auf den Rücken gedreht. Irgendwann wird man ihr die Polypen rausnehmen müssen, sagt der Hausarzt in Bonn. Die Arme hat sie seitlich abgewinkelt, als wollte sie sich im nächsten Moment strecken und mit hellwachen Augen fragen: Was machen wir heute? So vorsichtig wie möglich steigt Hartmut aus dem Bett, zieht die Decke zurecht und schleicht nach unten. Halb sechs zeigt die Küchenuhr. Hinter großen Fenstern wölbt sich der Himmel wolkenlos über die Landschaft, bedeckt vom letzten Nachtschatten, aus dem durchsichtig und fahl der Mond herabschaut. Als würde die Stille im Haus sich draußen fortsetzen.
    Gestern Nachmittag sind sie angekommen. Müde nach der fünfstündigen Fahrt von Lissabon herauf, weil Lurdes sie gedrängt hatte, den Umweg über Mealhada zu machen und ein gegrilltes Spanferkel für den Abend zu kaufen. Das tut sie bei jedem Besuch und vergisst nie zu versprechen, es sei das letzte Mal. In einem gemieteten Renault sind sie über hitzeflimmernde Straßen gefahren, mit einem toten Schwein auf der Hutablage, dessen Fett allmählich durchs Pergament tropfte. Je näher sie Rapa kamen, desto größer wurde seine Vorfreude. Für ihnwird die kommende Woche aus reichlichen Mahlzeiten und den trägen Stunden dazwischen bestehen. Seine Schwiegereltern lieben ihn dafür, dass er nie Nein sagt und alles köstlich findet, den grünen Wein, den Queijo da Serra und selbst das weiche Brot, das der fahrende Bäcker aus dem Kofferraum seines

Weitere Kostenlose Bücher