Fliehkräfte (German Edition)
mehr.«
Maria sieht ihn an und legt ihre Hand auf seine. Sie ist anders in Portugal. Sanfter. Anlehnungsbedürftiger. Wahrscheinlich weiß sie nicht, wie gut das tut.
»Du meinst, ich soll dir dankbar sein?«
Lachend nimmt er ihre Hand und küsst sie.
»Ich meine, unterschätz deinen Vater nicht. Er macht nicht viele Worte, aber er weiß, was er tut. Wie alle Pereiras ist er ein ausgesprochener Dickschädel.« Der nach seiner Rückkehr aus der Hauptstadt zum Ortsvorsteher von Rapa gewählt wurde und sich in den Kopf gesetzt hat, sein Heimatdorf gründlich zu modernisieren.
»Meine Mutter sagt, wahrscheinlich muss ihm ein Bypass gelegt werden. Sie zündet so viele Kerzen an, es gibt in der ganzen Serra bald kein Wachs mehr, aber der Arzt glaubt, dass es spätestens nächstes Jahr unumgänglich wird.«
»Was sagt er selbst?«
»Dasselbe wie immer – nichts.«
Am Himmel kreisen die Adler so hoch, dass sie sich aufzulösen scheinen im gleißenden Licht. Wie betäubt liegt das Dorf unter ihnen, niemand arbeitet mehr auf den Feldern, alle Fensterläden sind geschlossen. Manchmal zerreißen das Knattern eines Mopeds oder ein bellender Hund die Stille, ansonsten sind nur Grillen zu hören. Das unaufhörliche Sirren des portugiesischen Sommers. Wieso gehen sie nicht einfach rein und schlafen miteinander?
»Es bricht mir das Herz, wie sie alt werden«, sagt Maria. »Obwohl sie gar nicht alt sind. Aber die Umständlichkeiten, die ständigen Sorgen um nichts, die Anflüge von bocksköpfiger Unvernunft. Meine Mutter will die ganze Verwandtschaft zum Essen einladen, das hat sie heute Morgen beschlossen. Zwanzig Leute. Hast du den Berg Kartoffeln in der Küche gesehen? Mit ihren arthritischen Fingern braucht sie eine halbe Stunde, um eine zu schälen. Wenn ich ihr helfen will, sagt sie: Schau nach deinem Mann, der langweilt sich. Tut er nicht, sage ich. Dann besuch Tante Aurora. Ich meine, die Verwandtschaft kann gerne kommen, aber das Essen wird erst im Oktober fertig. Und so ist es mit allem.«
»Ich liebe dich.«
»Was?«
»Ich hab’s lange nicht gesagt. Du übrigens auch nicht.«
Manchmal machen Liebeserklärungen sie spröde, und in letzter Zeit hat sie ihn ein paar Mal auflaufen lassen, aber in Rapa ist auch das anders. Mit geöffneten Lippen lässt sie sich gegen ihn sinken, und er spürt überrascht, wie ihre Zungenspitze nach seiner tastet und wie heiß ihr Atem ist. Es war ein anstrengendes, nervenaufreibendes Semester, in dem viele Dinge zu kurz gekommen sind. Dann hält Maria sein Gesicht in beiden Händen und schaut ihn an, so nah, dass er blinzeln muss.
»Weiß ich, wer du bist? Weißt du, wer ich bin?«
»Ich hoffe schon. Warum sagst du das jetzt?«
»Und wenn nicht?«
»Maria, dein Vater ist ein Pferd, der wird auch mit Bypass hundert Jahre alt. Lass dich nicht von deiner Mutter anstecken. Sie hat einfach zu viel Zeit für ihre Sorgen.«
»Ich kann nicht atmen hier.« Mit der linken Hand fasst siean den Ausschnitt ihres Kleides, als wollte sie es sich vom Leib reißen. »Lass uns woanders hinfahren, nur für zwei Tage. Irgendwohin.«
»Nächste Woche fahren wir ans Meer. Valentin hat mir gestern die Fotos gezeigt. Wir werden ...«
»Vorher. Jetzt! Lass uns für zwei Tage dahin fahren, wo Menschen sind. Nach Coimbra ist es eine Stunde. Wir brechen morgen früh auf, nehmen uns ein Hotel und ... Bitte!« Erneut drängt sie sich gegen ihn, fährt mit der Hand über seine Brust und krallt sich in sein Hemd. Tatsächlich haben sie in diesem Haus noch nie miteinander geschlafen. Zu viele Kruzifixe, sagt Maria, und vor allem zu viele Fotos des zwei Jahre vor ihrer Geburt gestorbenen Bruders. Antonio. Das sommerliche Liebesleben muss warten bis zur zweiten Woche, das ist das große Plus der Algarve gegenüber Rapa, aber jetzt schmiegt seine Frau sich an ihn, als könnte sie nicht so lange warten. Eine Reminiszenz an frühere Nächte schwingt darin mit. Alles in allem ist der Sex nicht weniger aufregend als vor Philippas Geburt, nur seltener, und in den letzten Wochen war er besonders selten.
»Meinetwegen gerne«, bringt er zwischen zwei Küssen hervor. »Wenn deine Eltern uns gehen lassen. Wir wollten schon immer nach Coimbra.«
»Wir lassen ihnen Philippa hier.«
»Hey!«
»Warum nicht? Sie will sowieso bloß Schafe streicheln.«
Jetzt ist er es, der ihr Gesicht in beiden Händen hält. Was ihn erfüllt und erstaunt, ist die rätselhafte Bedeutung des Wortes Liebe in Momenten wie diesem. Wenn
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