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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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staubigen Ford verkauft. Maria dagegen muss den größten Teil des Tages in der Küche verbringen und sich die Klagen ihrer Mutter anhören: wer im Umkreis von zwanzig Kilometern gestorben ist, wann João endlich sein Motorrad verkaufen und heiraten wird, wie der neue Priester heißt, der zwei Mal in der Woche die Messe liest, und dass es besser war, als Rapa noch einen eigenen Priester hatte und sie täglich zur Beichte gehen konnte. Wenn Maria eine Auszeit braucht, leistet sie ihm auf dem Balkon Gesellschaft. Setzt sich mit einem Seufzer auf seinen Schoß und nickt ergeben, wenn er sagt: Nur eine Woche, dann fahren wir ans Meer. Dass ihm die erste Woche beinahe besser gefällt, weiß seine Frau und gönnt ihm die Ruhe. Sie findet sowieso, dass er zu viel arbeitet in Bonn.
    Mit der dampfenden Tasse in der Hand schleicht er zurück nach oben. Aus Philippas leerem Bett glotzt ihm Ruca, die kulleräugige Schildkröte entgegen. Im aufgeklappten Kinderkoffer liegen Kleidungsstücke, Bilderbücher und eine grüne Metalldose für die schönsten Muscheln. Sobald Hartmut auf den Balkon tritt und an seinem Kaffee nippt, fühlt er sich so wach, als hätte er zwölf Stunden geschlafen. Auf der anderen Dorfseite startet der erste Wagen. Weit reicht der Blick über flache Kuppen und karge Täler, die Farben werden blasser, bis Himmel und Erde in einem neutralen Blauton ineinanderfallen. Das Auto ist längst außer Sicht, als der Motorenlärm schließlich verklingt und Hartmut nichts mehr hört außer den Glocken weidender Schafe. Magie, sagt er in Marias Kopfschütteln hinein, wenn sie wissen will, warum er sich an diesem reizlosen Ort so wohl fühlt.
    Gestern nach der Ankunft hat er seinen üblichen Gang ins Café gemacht und den Beginn der Ferien mit einem kühlenSagres gefeiert. Zwei Ventilatoren drehten sich träge unter der Decke. Wie immer roch es nach Sommer, Tabak und starkem Kaffee. Nach viel Zeit. Nebenan im Laden tippte Philippa auf der alten Registrierkasse herum, und draußen erlosch der Himmel über den schwarz gewordenen Bergen. Binnen Minuten fiel die Anstrengung der Fahrt von ihm ab. Er trug bereits sein Outfit für die nächsten Tage, Sandalen und knielange Hosen, das Hemd halb offen und auf dem Kopf den ausgefransten Strohhut aus Óbidos, den Maria seinen Huckleberry-Finn-Hut nennt. Das Semester war hart, aber nun hat es ihn in die Freiheit entlassen. Zum ersten Mal seit Philippas Geburt wird er in diesem Sommer einen Roman lesen. Das ist sein Projekt.
    »Hartmut, wie kann man sich seinen eigenen Eltern gegenüber so fremd fühlen?«
    Es ist später Vormittag. Wieder sitzt er auf dem Balkon, hat ein Glas Wasser mit Zitrone neben sich stehen und könnte nicht sagen, was er in der letzten Stunde am meisten genossen hat, die entspannte Lektüre, die Stille über dem Ort oder das Wissen, dass Maria bald seinen Trost brauchen wird. Jetzt steht sie in der Tür und sieht ihn an, als erwarte sie tatsächlich eine Antwort. Trägt ein kurzärmeliges Kleid aus hellem Stoff, das über der Brust spannt.
    »So schlimm?«, fragt er. Ob sie den Genuss ermessen kann, den es ihm bereitet, sie anzuschauen?
    »Ich meine nicht erst jetzt, sondern immer schon, so weit ich zurückdenken kann. Diese liebenswerten Leute, zu denen ich Vater und Mutter sage.«
    »Dein Vater auch?«
    »Halb Don Quijote, halb Albert Schweitzer«, seufzt sie, »was ergibt das? Don Camillo? Onkel Wanja? Ich liebe ihn, aber manchmal spreche ich zu ihm wie zu Philippa.«
    Er legt das Buch zur Seite und winkt sie zu sich heran. Das Bewusstsein, dass keine Verpflichtung ihn ruft, kommt in Wellen, und jedes Mal würde er am liebsten laut lachen. Die Sonne steht hoch, und Philippa absolviert an der Hand ihres Großvaters die üblichen Besuche bei der Verwandtschaft. Nickend setzt sich Maria auf seinen Schoß, und er fährt mit den Fingerspitzen über ihren Oberschenkel.
    »Wieso Don Quijote?«, fragt er.
    »Glaubst du vielleicht, dieses Altenheim wird jemals gebaut? Er schreibt Briefe an irgendwelche Leute, die er in Lissabon kennt. Seine politischen Kontakte nennt er sie. In Wirklichkeit sind es frühere Gäste aus dem Restaurant. Jetzt hat er jemanden gefunden, der zwanzig Jahre lang in Frankreich gearbeitet hat, als Koch, und sie setzen gemeinsam Schriftstücke auf und schicken sie an ... keine Ahnung wohin. An die EG. Auf Französisch oder was sie dafür halten.«
    »Merkst du, dass dein Deutsch perfekt geworden ist? Du machst überhaupt keine Fehler

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