Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
es das Elternhaus, das er ausgebaut hat zum größten Gebäude diesseits der Brücke. Viel zu groß für zwei Personen. Irgendeine alte Familienfehde steckt dahinter, über die Maria nicht sprechen will. Im Übrigen ist er nicht sicher, ob seine Frau die Verbundenheit von Artur und Lurdes mit ihrer alten Heimat wirklich so schlecht nachvollziehen kann, wie sie behauptet. Manchmal denkt er, dass sie ein bisschen übertreibt. In vielen Dingen.
    »Gib mir Zeit«, sagt sie.
    »Natürlich. Ich will nur sichergehen, dass wir es sind, die unser Leben bestimmen. Nicht die Umstände.«
    Maria nickt und lächelt.
    »Selbstbestimmung. Verstanden.«
    »Klär es mit deiner Mutter, und dann fahren wir morgen los nach Coimbra.«
    »Vielleicht ist es nur die Hitze oder die lange Fahrt gestern. Meine Haare riechen immer noch nach Schweinefett.«
    »Du riechst wunderbar«, sagt er. Sie hat sein Verlangen angefacht, und nun lodert es vor sich hin. »Vor allem seit du nicht mehr rauchst.«
    »Willst du später mit Valentin wandern?«
    »Das war der Plan. Wenn ich in der Küche helfen soll, kann ich auch hierbleiben.«
    »Geh wandern. Ich hab’s nie gesagt, aber wo wir schon dabei sind: Das Schönste an den Tagen in Rapa ist, dass du sie so genießt.« Bevor er sie noch einmal an sich drücken kann, ist sie aufgestanden und im Haus verschwunden. Er hört ihre Schritte auf der hölzernen Treppe. Auf dem Platz vor der Kirche erklingtPhilippas Lachen, dann beginnen die Glocken zu läuten. Alle halbe Stunde ein Ave Maria , nur an Heiligabend spielen sie Jingle Bells . In Portugal ist das ein religiöses Lied.
    Dass es riskant war, sich nach so kurzer Zeit erneut zu bewerben, ist ihm natürlich klar gewesen. Kaum ein Jahr in Bonn, hat er seine Unterlagen trotzdem an die FU geschickt und gehofft, dass die Kollegen am Rhein vorerst nicht davon erfahren würden. Für jemanden mit seinen Schwerpunkten bot die Bonner Uni kein kongeniales Umfeld. Sprachanalytische Philosophie galt als Disziplin derjenigen, denen die nötige Bildung fehlte, um richtige Philosophie zu betreiben, so sahen das jedenfalls die beiden Tonangeber am Institut, Grevenburg und Riemann, selbstherrliche Ordinarien alten Stils. Die Uhus, nannte Hartmut sie insgeheim. Als er in ihrem Beisein einmal die Habilitation als Hemmschuh für innovative Forschung bezeichnete, begegneten ihm Blicke, als hätte er ein Plädoyer für die Vielehe gehalten.
    Sie waren angekommen, als sich in Bonn der Blues breitmachte, die bange Erwartung des baldigen Exodus. ›Bonn muss Hauptstadt bleiben‹, flehten Aufkleber auf Heckklappen und Ladentüren. In Berlin tobte der Bär, und am Rhein sollte bleiben, was längst nicht mehr war. Irgendwie ist es komisch hier, sagte Maria, als in den Räumen im Bonner Talweg noch unausgepackte Kartons standen. Schon bei ihrem Umzug nach Dortmund hatte sie ihm das Versprechen abgenommen, sich auf jede frei werdende Stelle in Berlin zu bewerben, und seitdem waren vier Jahre verstrichen, ohne dass er Gelegenheit gehabt hätte, es zu halten. Also jetzt, sagte er sich. Der Schritt kam zu früh, war forsch und ein wenig undankbar gegenüber der Bonner Uni, aber das Anforderungsprofil entsprach seinen Qualifikationen so genau, dass sogar Ernst Simon anrief und fragte, ob er es nicht versuchen wolle. Außerdem würde er als C4-Professor rund tausend Mark mehr verdienen und dürfte sich Ordinarius nennen. Wie die Uhus. Der letzte Schritt, der noch fehlte.
    Dass man ihn nach dem Vorsprechen auf Platz eins der Berufungsliste setzen würde, hatte er in seinen kühnsten Träumennicht erwartet. Hatte er die eigenen Fähigkeiten zu niedrig eingeschätzt? War er im gewohnten Glauben, er verkürze bloß den Rückstand, an der Konkurrenz vorbeigezogen? Grevenburg und Riemann meinten, woran er arbeite, sei offenbar sozusagen ›in‹ und er daher gut aufgehoben in der neuen Hauptstadt. Das war zu Beginn des Sommersemesters. An schönen Abenden saßen Maria und er auf dem Balkon, erinnerten sich an ihren ersten gemeinsamen Besuch in Ost-Berlin und phantasierten von Zweihundert-Quadratmeter-Wohnungen mit bröckelndem Stuck. Seine Frau meinte das sogar ernst.
    Dann geschah – nichts. Der Ruf schien nur eine Frage der Zeit zu sein, aber die zog sich hin. Das Verfahren musste lediglich noch durch die Instanzen gehen, doch deren gab es viele. Von Kollegen an der Spree hörte Hartmut von Verzögerungen. Dann von Komplikationen. Schließlich wurde von verdeckten Widerständen gesprochen.

Weitere Kostenlose Bücher