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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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In ihren abendlichen Unterhaltungen fiel das Wort Geduld desto häufiger, je weniger sie davon aufbrachten. Möglicherweise habe es einen Verfahrensfehler gegeben, hieß es aus der Berliner Gerüchteküche. Telefonate endeten in Warteschleifen, die Verantwortung lag mal hier und mal da, schien es aber nirgendwo lange auszuhalten. Mehr als nur ein Streit zu Hause ging auf das Konto des großen Unbekannten, der Sand ins Getriebe seiner Berufung streute. Das Sommersemester neigte sich dem Ende zu. Es war Freitagabend, Maria brachte Philippa ins Bett, und Hartmut saß am Schreibtisch, als das Telefon klingelte.
    Dietmar Jacobs.
    »Wow«, sagte Hartmut. »Das ist lange her.«
    »Alter Junge.« Dietmars Stimme hatte immer noch den eingeübt wirkenden Klang von früher. Als spräche er in ein Mikrofon. Damals an der TU, wenn sie mit den anderen im Café Hardenberg gesessen oder sonntags vor dem Reichstag Volleyball gespielt hatten, war er Hartmut wie ein Ehrgeizling erschienen, der so tat, als stünde er über den Dingen und würde nur zum Spaß mitmachen.
    »Von wo rufst du an?«, fragte Hartmut.
    »Aus dem Auge des Orkans: Berlin-Wilmersdorf.«
    »Richtig, du bist noch in Berlin.« Bei seinem Berufungsvortrag hatte er einem Aushang am Institut entnommen, dass Dietmar Jacobs dort als Privatdozent unterrichtete, aber über den Weg gelaufen waren sie einander nicht.
    »Seit es die Mauer nicht mehr gibt, kommt man hier noch schwerer raus.«
    »Weil der Gegenverkehr zu stark ist?«
    »Du sagst es, mein Freund. Du sagst es.«
    Während der nächsten zehn Minuten hörte Hartmut mit einem Ohr die Anita -Geschichte, die Maria ihrer Tochter vorlas, mit dem anderen den kurzen Abriss von Dietmars akademischer Laufbahn. Er habe einen Zeitvertrag und immer ein paar Bewerbungen laufen, sagte er. Nächstes Jahr komme ein viel zu dickes Buch von ihm raus, und irgendwie werde es danach schon weitergehen. Es entstand die Art von Pause im Gespräch, die einen beabsichtigten Themenwechsel anzeigt.
    »Ich wollte unbedingt kommen, als du hier vorgesungen hast«, sagte Dietmar, »aber ich musste mein Seminar geben. Sorry.«
    »Kein Problem. Ich hätte mich gemeldet, aber ich war nur einen Nachmittag in der Stadt. Hier wächst mir die Arbeit über den Kopf.«
    »Du hast ein Kind, hört man.«
    »Hab ich. Meine Tochter ist vier geworden.« Die übliche Bemerkung über die immer schneller vergehende Zeit lag ihm auf der Zunge, aber er ließ sie dort liegen. Nebenan wurden Küsse getauscht. Als Hartmut das Klicken des Lichtschalters hörte, wusste er, dass Dietmar mit Neuigkeiten zu seiner Bewerbung anrief. Wahrscheinlich keinen guten.
    »Wir kriegen im Herbst ein Kind. Manchmal frage ich mich, ob Berlin der richtige Ort dafür ist.«
    »Wilmersdorf«, sagte Hartmut. »Du meinst, dem Kind könnte langweilig werden?«
    Dietmar ließ sich Zeit, bevor er mit einem kühlen Lachen antwortete. Maria steckte den Kopf herein und bedeutete ihm, dass er noch mal rübergehen und gute Nacht sagen solle. Mit der freien Hand signalisierte Hartmut ein ›Ich komme sofort‹, aber sie blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Hatte das Stichwort ›Wilmersdorf‹ aufgeschnappt und wollte mehr wissen. Ihre Freude über seinen Ruf nach Bonn war beinahe schneller verflogen, als seine hatte ins Bewusstsein sinken können.
    »Was verschafft mir eigentlich die Ehre deines Anrufs?«, fragte er.
    »Ich dachte, ich setze dich mal ins Bild. Du weißt schon. Es hat mich niemand beauftragt, ich tu’s aus alter Freundschaft.«
    »Okay. Danke.«
    »Der Widerstand kommt aus dem Dekanat«, sagte Dietmar ohne lange Einleitung. »Kein offenes Nein, natürlich. Eher überflüssige Nachfragen, formale Haarspaltereien und so weiter. Du weißt, auf Platz zwei der Liste steht eine Frau. Der Frauenanteil am Fachbereich ist nicht hoch, man könnte auch sagen skandalös niedrig. Das ist zunächst mal ein Faktum.«
    »Wenn auch keins, das ich ...«
    »Warte, warte. Ute Cramer ist nicht dein Problem. Du hast Fürsprecher am Institut. Dein Vortrag kam hier gut an. Dazu schon mal meinen Glückwunsch. Well done. Aber es sind, wie soll ich sagen – es sind keine bedingungslosen Fürsprecher. Wenn ein Kompromiss ihnen nützt, denken sie pragmatisch. Alle rechnen damit, dass sich hier bald einiges ändern wird. Zusammenlegungen, Einsparungen. In so einer Situation können kleine Guthaben an Wohlwollen nicht schaden. Die Kollegen verhalten sich wie Eichhörnchen im Herbst.«
    »Und an

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