Fliehkräfte (German Edition)
mich freuen kann«, sagt sie.
»Worauf oder worüber?«
»Egal.«
»Ich hab mir überlegt, wir könnten nach Spanien fliegen. Nach deinem Gastspiel. Wir erschrecken unsere Tochter und machen alle zusammen einen Abstecher nach Portugal. Deine Eltern würden sich freuen und wir unsere Serie halten.«
»Hm?«
»Wir waren bisher jeden Sommer dort.«
»Such nach Flügen.« Wenn sie in der richtigen Stimmung ist, kann Maria herrlich unkompliziert sein. Leider sind es die Abschiede von ihm, die sie in die richtige Stimmung versetzen.
Sie küssen sich, wie man es in ihrem Alter selten tut in der Öffentlichkeit, dann kann Hartmut seiner Frau nur noch hinterhersehen. Die Bewegungen wirken rund und leicht, obwohl sie in Bonn nie Fahrrad gefahren ist. Führen sie wirklich eine Ehe auf Bewährung? Als Kind hat er kleine Mutproben durchgeführt, nur für sich und in Gedanken. Hat den Kopf in den Nacken gelegt und gedacht: Es gibt keinen Gott. Danach wartete er jedes Mal mit angehaltenem Atem darauf, dass ein Gewitter ausbrach oder die Erde sich unter ihm auftat, und verstand nicht, warum nichts dergleichen geschah. Gab es wirklich keinen Gott, oder saß der ungerührt im Himmel und schüttelte den Kopf über diesen frechen Bengel? Jetzt sieht er Maria hinterher und denkt: Ich ziehe nicht nach Berlin. Ich verlasse dich.
Passanten strömen über den Hackeschen Markt. Touristen fotografieren alles, was ihnen vor die Linse kommt. Ein dunkles Rauschen hebt an und kommt schnell näher, dann bringt die einfahrende S-Bahn den Boden zum Vibrieren.
2 Der große Streit war der Kulminationspunkt eines aufreibenden Jahres. In ihm gipfelte alles, was in den Monaten zuvor ihre Ehe belastet hatte: Stress, Einsamkeit und ungelöste Konflikte. An Hartmuts Institut herrschten Hektik und Konfusion, weil die Einführung der neuen Studiengänge zwar seit langem feststand, aber niemand wusste, wie sie aussehen sollten. Die Studienordnung war Gegenstand zermürbender Auseinandersetzungen. Das ganze verregnete Frühjahr hindurch musste jede Neufassung noch einmal neu gefasst und jede Änderung sofort wieder geändert werden. Kleinigkeiten hielten den Prozess auf. Benedikt Herwegh duldete keine Anglizismen und wehrte sich vehement gegen den Ausdruck ›workload‹ im Modulplan Philosophie der Antike. Durch seinen mehrstündigen Filibuster brachte er schließlich die Formulierung ›kalkulierter studentischer Arbeitszeitaufwand‹ in der Studienordnung unter. So suchte im Niedergang des Ganzen jeder seinen kleinen Pyrrhussieg.
In einem Moment der Schwäche hatte Hartmut sich bereit erklärt, den Wortlaut des Entwurfs auszuarbeiten. Nun wurde er zum Opfer sprachlicher Obsessionen und des allgemeinen Bestrebens, zuerst die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Wie alle Kollegen zweifelte er am Sinn des Projekts, aber ihm blieb keine Zeit, sich in die Materie einzuarbeiten, mit deren Ausarbeitung er betraut war. Wenn er in den Tagesthemen von der ›Reform des Hochschulstudiums‹ hörte, fragte er sich, ob die Leute wussten, welcher Dilettantismus hier am Werk war. Trotzdem machte er mit. Ärgerte sich über sein Mitmachen ebenso wie über das seiner Kollegen und ärgerte sich am meisten, wenn die Arbeit stockte, weil jemand nicht mitmachte. Die Sitzung des Institutsrats, auf der die neue Studienordnung verabschiedet werden sollte, war bereits anberaumt, und Hartmut kommunizierte täglich mit der Rechtsabteilung, um letzte Details zu klären. Frau Müller-Grafs Charme war der einzige Lichtblick in diesen langen, trüben Tagen, nach welchen ihn Modultitel, Leistungspunkte und die komplizierte Arithmetik des ECTS bis in den Schlaf verfolgten. Selbst einem in der Wolle gefärbten Europäer wie ihm stellten sich die Nackenhaare auf, wenn sein Blick auf das peppige Logo des Bologna-Prozesses fiel.
An einem späten Abend im Mai saß Hartmut vor dem Computer und hörte im linken Ohr einen Ton. Ein metallisches Sirren, das tief aus seinem Kopf und gleichzeitig von weit weg zu kommen schien. Kurze zitternde Frequenzen, wie eine mechanische Nachahmung der Grillen von Rapa. Vor sich auf dem Bildschirm hatte er die Beschreibung des Wahlpflichtmoduls Logik und Grundlagen. Unter der Rubrik Prüfungsgegenstand/Lernziele fiel sein Blick auf die Zeile ›Einsicht in die Reichweite wie Begrenztheit formaler Methoden‹, und für einen Moment verstand er kein Wort von dem, was er las. Ein plötzliches Kappen der Leinen. Vorsichtig stand er auf und lief ein
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