Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
die unvermutete Stille eines Hinterhofs. Sein Weg führt ihn zur Längsseite der Kathedrale, deren Ausmaße aus der Nähe nur zu erahnen sind. Obwohl er Kirchen gegenüber gemischte Gefühle hegt, passiert er zügig die Verkaufsstände für Gehstöcke, Regenschirme und anderen Pilgerbedarf und lässt sich hineinziehen in das steinerne Herz der Stadt.
    Dämmerlicht empfängt ihn. Die gedämpfte Lautstärke hundertfachen Flüsterns. Links schimmert der mattgoldene Bombast des Altarraums, nach rechts öffnet sich ein hoch aufragendes Mittelschiff. Kamerablitze zucken wie fernes Wetterleuchten über die Menge. In jeder Kirche riecht es anders, aber nach nichts anderem als Kirche; früher in Arnau hat er geglaubt, es seien die durchgesessenen Sitzkissen. Bei Nooteboom heißt es kirchenförmige Luft, aber genau genommen riecht Hartmut nichts, weder Weihrauch noch Kerzenwachs noch das alte Holz der Bänke. Ein anderer Sinn, der ihm anerzogen wurde und den er bis heute nicht abgelegt hat, nimmt die sakrale Aura auf. Sie ruft das kindliche Gefühl zurück, beobachtet zu werden von jemandem, der zu mächtig ist, als dass auf seine Güte Verlass wäre. Wie bei früheren Mutproben spürt er einen Druck auf der Brust, der ihn zu denken herausfordert, was zu denken ihm die Chuzpe fehlt. Allmählich gewöhnen sich seine Augen an die Lichtverhältnisse. Die Säulen sehen aus, als hätte die Ewigkeit Beine bekommen. Gegen seinen Willen stört es ihn, wenn in der Nähe jemand in normaler Lautstärke spricht.
    In den hinteren Rängen findet er eine freie Bank und setzt sich. Durch die Fenster über dem Hauptportal fällt diffuses Licht, das Hartmut an die Alte Kathedrale von Coimbra erinnert. Sein Blick wandert eine Reihe von Beichtstühlen entlang, kleine Holzbuden mit spitzen Dächern. Ein rotes Lämpchen über der Tür zeigt an, ob sie besetzt sind oder nicht. In katholischen Kirchen fühlt er sich eher als in evangelischen berechtigt, seine mangelnde Demut durch Neugierde zu ersetzen. Weihrauch, goldene Putten, Rosenkränze – fremde Dinge, von denen Maria früher umgeben war wie er von der Nüchternheit des Arnauer Gotteshauses. Beim Besuch in Coimbra, fällt ihm ein, war Philippa noch klein genug, um an seiner Hand zu gehen und sich Geschichten erzählen zu lassen, die auf den hohen Wandgemälden abgebildet waren; sofern ihr Vater sie kannte und für kindgerecht hielt. Über Jahre hinweg hatte ihre religiöse Erziehung sich als ökumenischer Eiertanz vollzogen, aufgeführt von Eltern, deren Unglaube auf wackeligen Füßen stand. Da Philippa außerdem fromme protestantische Großeltern und in Portugal eine erzkatholische Oma besaß (was Artur glaubt, weißer allein), konnte das Problem weder umgangen noch rational behandelt werden. Sie wurde katholisch getauft und durfte später selbst entscheiden, welchen Religionsunterricht sie besuchen wollte. Dass sie sich der besten Freundin wegen für den evangelischen entschied, wurde in Rapa nie bekannt. Lurdes bemühte sich bei jedem Besuch, das Kind auf Rechtgläubigkeit zu trimmen, und aus Arnau kamen zu Weihnachten Abreißkalender mit 365 Tageslosungen, für die Philippa eine Box einrichtete, worin sie säuberlich geordnet verstaubten. Auf kindliche Fragen, wo Gott wohnt, erhielt sie Antworten, die eine Abiturientin überfordert hätten. Nachdem Ruth ihr eine illustrierte Kinderbibel geschenkt hatte, stellte sie sich den Himmel vor wie Sommerferien auf der Arche Noah, aber woran sie wirklich glaubte oder heute glaubt – keine Ahnung. Auf interessante Weise ist das Thema Religion für Maria und ihn so peinlich wie für die Generation zuvor die Sexualität. Nicht aus der Welt zu schaffen, man kann nur die Augen schließen.
    An jenem Nachmittag waren Philippa und er alleine in der Kathedrale. Maria brauchte eine Auszeit, in der sie ungestört Kaffee trinken und die Umgebung beobachten konnte. Die wachsende Entfremdung von Zuhause ließ bei ihr ein Verlustgefühl zurück, für das es nicht das richtige Wort gab. Lass mich ein bisschen sitzen und schauen, sagte sie nur. Also machte er mit seiner Tochter einen Rundgang um den Platz und führte sie hinein in die Kirche. Versuchte, ihre Aufmerksamkeit fernzuhalten von Kruzifixen und anderen Grausamkeiten. An ein düsteres Gemälde des heiligen Sebastian glaubt er sich zu erinnern, gefesselt und bereit zum Märtyrertod. Im Weitergehen suchte er nach harmloseren Darstellungen und sah auf der anderen Seite des Kirchenschiffs eine attraktive

Weitere Kostenlose Bücher