Fliehkräfte (German Edition)
Frau aus dem Beichtstuhl treten. Nervös nestelte sie an den Knöpfen ihres Kleides, als habe sie sich bekreuzigt und wolle die Bewegung ins Profane überführen. Reflexartig begann seine Phantasie, die Verfehlungen zu ersinnen, die sie begangen und gebeichtet hatte, da erkannte er staunend ihr Kleid. Dann die Frisur und die gerade Haltung.Einen Moment lang war er gefangen zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Ungläubig sah er die Tür zufallen, durch die Maria verschwunden war. Philippa hatte nichts mitbekommen und zog an seiner Hand. Später, wenn er sich recht erinnert, hat er seiner Tochter ein Eis gekauft, und sie trafen Maria wie verabredet in dem kleinen Café. Weder war er schockiert, noch alarmiert, trotzdem lief die Szene den ganzen Tag vor seinem inneren Auge ab. Ihr gesenkter Blick. Die Haltung mädchenhafter Verschämtheit, so anders als in der Nacht zuvor im Hotel. Nach dem Inhalt der Beichte hat er nie gefragt.
Ein Gong reißt ihn aus seinen Gedanken, darauf folgt eine Ansage auf Spanisch. Eine Gruppe Asiaten geht an ihm vorbei, die Erwachsenen andächtig und ein paar Kinder sichtlich gelangweilt. Auf der anderen Seite des Mittelgangs nehmen sie Platz und falten wie auf Kommando die Hände. Nur die Reiseführerin bleibt stehen und zählt mit stummen Lippen die Reihen durch. Offenbar beginnt in Kürze die nächste Messe.
Als Hartmut die Kathedrale verlässt, hat der Regen aufgehört, und der Himmel wird heller. Er zieht den Stadtplan aus der Tasche, auf dem er den Standort des Cafés markiert hat. Es befindet sich ganz in der Nähe seines Hotels, im Erdgeschoss eines Hauses, das einmal zur angrenzenden Kirche San Martino gehört haben muss. Auf dem abschüssigen Platz davor wird Fußball gespielt. Ein Stück der Außenmauer dient als Tor. Was die jungen Akteure einander auf Gallego zurufen, kann Hartmut größtenteils verstehen, als er auf die Tischgruppe zugeht, die vor dem Eingang des Cafés auf Besucher wartet. Drinnen empfangen ihn braune Bodenkacheln und ockergelb getünchte Wände, eine Bilderserie zeigt weltliche Helden: John Belushi, Peter Falk, Lee Van Cleef und andere. ›Tus muertos favoritos‹ steht als Titel über den Porträts. Die weibliche Bedienung hinter der Theke trägt einen Haarschopf, der mühelos für zwei Köpfe reichen würde – und ein großes Kissen, denkt Hartmut, grüßt freundlich und entscheidet sich für einen Ecktisch, von dem auser den Kirchplatz im Blick behält. Bis zu Philippas Eintreffen bleibt ihm eine Stunde.
Der Druck auf seiner Brust ist verflogen. Der Wechsel der Atmosphäre tut ihm gut. Außer ihm befinden sich nur drei Gäste im Café. Ein junger Mann sitzt konzentriert vor seinem MacBook, und zwei Mädchen in Philippas Alter räkeln sich plaudernd in tiefen Ledersesseln. Auf Portugiesisch fragt Hartmut nach der Karte und hat Mühe, nicht den schwarzen Wischmopp anzustarren, der auf dem Kopf der Bedienung hin- und herwippt, wenn sie nickt. Rastalocken sprießen aus einem gemusterten Tuch und fallen seitlich herab. Das Gesicht ist blass und durchschnittlich, trotz der stark geschminkten Augen. Noch bevor er die Karte aufschlägt, bestellt er einen großen Milchkaffee.
Da es keine warme Küche gibt, wählt er den hausgemachten Schokoladenkuchen, unterdrückt die Lust auf ein alkoholisches Getränk und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Im Hintergrund spielt John Coltrane Saxophon. Die trichterförmige Zigarette, die eins der beiden Mädchen dreht, erinnert ihn an Marias Behauptung, dass es ihm guttun würde, wenn er sich hin und wieder einen Joint reinzöge. Wie oft sie selbst es tut, wollte sie nicht sagen. Das sei unter Theaterleuten nichts Besonderes. Manchmal fragt er sich, warum in ihrem Fall die Ehe nicht bewirkt, was ihm wie eine natürliche und beinahe zwangsläufige Folge langjähriger Zweisamkeit erscheint: dass die Partner gemeinsame Interessen und Gewohnheiten ausbilden. Liegt auch das in ihrer unterschiedlichen Herkunft begründet? Als er die Frage seiner Frau gestellt hat, sah er sich sofort dem Verdacht ausgesetzt, das sei ein versteckter Vorwurf an sie. Statt zu antworten, bedrängte sie ihn mit einer Reihe von Gegenfragen. Ob er vielleicht einen etwas kleinbürgerlichen Begriff von der Ehe habe? Ob er es vorzöge, wie Ruth und Heiner zu leben? Schwierige Frage, dachte er und schüttelte entschieden den Kopf. Nach zwanzig Jahren hört er, wenn das Eis unter seinen Füßen knackt.
Sein Schokoladenkuchen kommt.
Die Diskussion fällt ihm
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