Fliehkräfte (German Edition)
ein, weil er auch damals an den Aufenthalt in Coimbra denken musste. An den rätselhaften Kitzel des Nichtwissens. Einige Jahre später hat Maria von sich aus erzählt, wie sie zur Beichte gegangen war, als Philippa und sie einmal in Rapa Ostern feierten, ohne ihn. Was sie motiviert hatte, wusste sie nicht, und musste lachen über die seltsame Eingebung. Sie habe es einfach getan, ohne Grund. Zwei Rosenkränze seien ihr aufgebrummt worden, entweder habe sie nicht viel verbrochen oder nicht alles gestanden.
Als Hartmut nach draußen schaut, sieht er Philippa über den Kirchplatz radeln. Unerwartet, fast eine Stunde früher als verabredet. Sie trägt einen grünen Parka und hat sich ihre Tasche quer über den Oberkörper gehängt. Wie früher in Bonn steht sie auf den Pedalen, bremst spät und fährt am Café vorbei aus seinem Blickfeld. Durchs Fenster hört er das metallische Klicken eines Fahrradschlosses, kurz darauf geht die Tür auf, und obwohl Hartmut sich freudig von seinem Platz erhebt, steht er in der nächsten Sekunde unsichtbar in ihrem Rücken. Mit ein paar schnellen Schritten ist Philippa zur Theke geeilt, begrüßt die Bedienung wie eine alte Bekannte, und Hartmut lächelt ins Leere.
›Hola‹ versteht er und ›qué tal?‹. Lachend tauschen die beiden Wangenküsse und streichen einander über die Oberarme. Mit dem, was sie sagt, bringt Philippa den schwarzen Wischmopp ihrer Freundin in schaukelnde Bewegung. Dass sie aus alltäglichen Begebenheiten witzige Geschichten machen kann, weiß er, und dennoch berührt ihn der Anblick schmerzlich. Philippas rechte Hand fährt Slalom durch die Luft, die linke nähert sich im spitzen Winkel. Ein Vorfall unterwegs, der gut ausgegangen sein muss, jedenfalls brechen die beiden erneut in Lachen aus, als die Hände sich treffen. John Coltrane ist zum nächsten Stück übergegangen. Vertieft in ihre Erzählung, zieht Philippa den Parka aus und legt ihn über einen Barhocker. Hartmuts Wiedersehensfreude schwebt, folgt dem Saxophon auf eineWarteschleife und lässt ihn von der Bedeutung des Moments nur einen Teil erfassen. Einen Zipfel, nicht das Ganze.
Dann erst schaut Philippa sich im Raum um.
»Hallo«, sagt Hartmut und spürt, wie alle Augen im Café sich auf ihn richten. Seine Stimme wird laut, wenn er nervös ist.
»Papa ...« Einen Moment lang verharrt sie ebenso überrascht wie er. Lacht unsicher, bevor sie ihm entgegenfliegt, ihn auf die Wange küsst und etwas fragt, das er sie bitten muss zu wiederholen. Ihren Duft erkennt er sofort, und die flüchtige Süße der Umarmung.
»Warum du schon so früh hier bist?« Die grünen Augen kommen ihm jedes Mal größer vor. »Wir hatten gesagt sechs Uhr, oder nicht? Frühestens.«
»Du kennst meine Gründlichkeit«, sagt er. »Ich wollte die Location in Augenschein nehmen. Mich einstimmen auf das Event unseres Wiedersehens.« Damit entlockt er ihr ein mildes Kopfschütteln, und mehr wollte er nicht. Noch einmal springt Philippa zurück an die Theke, holte ihre Jacke und wechselt ein paar Worte mit der Freundin. Im nächsten Moment sitzt sie ihm gegenüber, stützt beide Ellbogen auf den Tisch und bedient sich von seiner Schokoladentorte.
»Dich hab ich so früh nicht erwartet«, sagt er. »Sonst hätte ich zwei Stücke bestellt.«
»Hm, hm«, macht sie mit vollem Mund und schluckt. »Extra deinetwegen hab ich auf die zweite Stunde verzichtet.«
Hier sitzen wir, denkt er. In einem Café in Santiago, Philippa flunkert und isst ihm den Kuchen weg, und er ist einen Moment lang wunschlos glücklich. Sie trägt Turnschuhe, Jeans und außer ihrem Nasenring fast keinen Schmuck, nur ein von der portugiesischen Oma geschenktes Kettchen. Früher einmal hat ihr alles am besten geschmeckt, wenn sie es von seinem Teller stibitzen konnte.
»Hast du schon was gesehen?«, will sie wissen.
»Nur die Kathedrale und ungefähr zehntausend Pilger. Ich wusste nicht, dass so viele Menschen den Jakobsweg laufen.«
»Auswüchse des Massentourismus«, sagt sie verächtlich. Oder ironisch? Beinahe geht es ihm wie kurz nach der Ankunft, beim ersten Gang durch die Gassen. Mehr Eindrücke strömen auf ihn ein, als sein Gehirn verarbeiten kann. Emotionen in kleinen Teilen, die zu ordnen ihn überfordert. Lieber will er einfach sitzen und schauen, seiner Tochter zuhören und reden.
»Und du bist wirklich die ganze Strecke mit dem Auto gefahren?«, fragt Philippa. »In Mamas letzter Mail hieß es, ihr überlegt, ob ihr zusammen fliegen wollt,
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