Fliehkräfte (German Edition)
schicksalhaften Wucht des Wortes ›Blutsbande‹, auch darin ähnelt sie ihrer Mutter. Im Gegensatz zu Maria tut sie allerdings nicht so, als wäre es ihr anders lieber.
»Wenn es ernst sein sollte, fahren wir hin«, sagt er, um sie aufzumuntern. »Nach Rapa oder Guarda. Sind ja nur ein paar Stunden.«
»Und Mama?«
»Ich hab in den letzten Tagen nicht mit ihr sprechen können. Mein Telefon ist tot, und das Ladegerät liegt in Bonn. So oder so müsste sie nachkommen.«
»Weiß sie, dass du hier bist?«
»Bisher nicht.«
»Was ist eigentlich los mit euch?« Ihr verständnisloses Kopfschütteln kennt er nur zu gut. »Seit wann fährst du quer durch Europa, ohne ihr das zu sagen? Stattdessen fragst du mich bei jedem Gespräch, ob ich mit ihr gesprochen habe und was es Neues gibt.«
»Wie häufig das vorkommt!«
»Redet ihr überhaupt noch miteinander?«
»Fernmündlich meistens. Da entstehen immer mal wieder Pausen und tote Winkel. Wie du weißt, hält deine Mutter sich gerade in Kopenhagen auf.«
»Ja? Wenn ich sie fragen würde, wo du bist, würde sie sagen: Der sitzt in Bonn an seinem Schreibtisch, wie immer.«
Die Bedienung wirft ihnen Blicke zu, als Philippas Stimme energisch wird. Vielleicht weiß sie um die schwierigen Verhältnisse im Hause Hainbach und Pereira. Beziehungsweise in den drei Häusern.
»Ich hab mich spontan auf den Weg gemacht, ohne es deiner Mutter zu sagen, weil ich eine Entscheidung treffen muss.« Hartmut macht eine Kunstpause und leert seine Tasse. Um keine Rast einlegen zu müssen, hat er unterwegs wenig getrunken, jetzt glaubt er, eine feine Staubschicht in seiner Kehle zu spüren. »Nämlich diese: Soll ich unser Haus verkaufen und meine Professur aufgeben, um eine Stelle in Peter Karows Verlag anzunehmen? Ja oder nein? Keine leichte Entscheidung, wie du zugeben wirst. Also wollte ich in Ruhe nachdenken.«
Philippa bläst die Backen auf, hält still und entlässt die Luft mit einem ploppenden Geräusch. »Und warum?«
»Ich will die Sache nicht dramatisieren, aber ich finde es zunehmend unerträglich, alleine zu leben. Ich bin zu alt dafür. Das ist der Hauptgrund.«
»Also ihretwegen«, sagt Philippa. »Wegen Mama.«
»Jedenfalls nicht aus Liebe zu Peter Karow, wenn du verstehst, was ich meine. Kennst du ihn?«
»Flüchtig. Er war damals bei der Premierenfeier.«
»Wenn ich es tue, dann für sie und mich. Aber nur, wenn ich sicher sein kann, dass sie es auch will. Beruflich wäre es ein Rückschritt. Finanziell sowieso.«
»Du bist nicht sicher?«
Die Nachfrage führt ihm vor Augen, wie bezeichnend es für den Zustand ihrer Ehe ist, dass er darauf nicht mit einem entschiedenen ›Doch!‹ antwortet. Draußen unterhalten sich die Muschelheinis im gebrochenen Englisch des europäischen Südens. Soweit Hartmut etwas verstehen kann, wird mit Kilometern geprotzt. Offenbar gibt es auch bei Pilgerwegen Routen für Weicheicher und welche für echte Kerle.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum sie nach Berlin gegangen ist«, sagt er.
»Um zu arbeiten.«
»Schon klar. Aber war das wirklich der einzige Job im Umkreis von fünfhundert Kilometern? Sie hat es mir erklärt, wir haben darüber gesprochen. Verstehen kann ich es nicht. Also lebe ich damit, aber es wird nicht leichter.«
Philippa verschränkt die Arme und sieht zur Theke. Wahrscheinlich ahnt sie, dass er ihre Ermutigung sucht und kann sich nicht überwinden zu sagen, was sie gerne sagen würde: Macht das gefälligst unter euch aus. Auf einmal schaut sie so wie kurz vor den Ausbrüchen, die ihre Pubertät geprägt und Maria in die Verzweiflung getrieben haben. Ihn nicht, weil er seltener die Zielscheibe war und die Wut ihm vertraut vorkam.
»Das Beste wäre, ihr würdet endlich Schluss machen mit den Geheimnissen.«
»Wir haben keine Geheimnisse.«
»Gib mir dein Handy, ich lade es auf, und morgen rufst du sie an.«
»Okay«, sagt er beschwichtigend. »Ich will dich da nicht reinziehen. Bloß betrifft es dich letztlich auch. Zum Beispiel der Verkauf des Hauses. Es ist zu groß für mich alleine.«
»Mir egal. Ich wohne da nicht mehr.«
»Es ist das Haus, in dem du aufgewachsen bist.« Er dreht sichnach der Bedienung um, aber die wechselt gerade die CD. Die beiden Mädchen in der Ecke haben ihren Joint aufgeraucht und unterhalten sich leise und einvernehmlich. In den Gesprächspausen halten sie einander lächelnd an den Händen. Vielleicht sollte Maria ihm wirklich mal was mitbringen von dem Zeug. Es könnte
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