Fliehkräfte (German Edition)
Überwindung, in den Bannkreis ihres Schweigens einzutreten und neben seiner Frau Platz zu nehmen. Zigarettentabak roch er und seinen eigenen Schweiß. Was bis vor kurzem der Beginn der Ferien gewesen war, eröffnete nun einen anderen Ausblick: auf ihr gemeinsames Schweigen in Rapa und die Unmöglichkeit, einander aus dem Weg zu gehen. Von der Terrasse würden sie auf wenige Lichter zwischen den dunklen Hügelketten schauen. Wie jetzt, bloß nachts. Würden sich bange fragen, ob sie ans Ende gelangt waren, und wenn nicht, wohin sonst.
Schließlich holte er tief Luft, aber Maria kam ihm zuvor.
»Ich zuerst.« Sie trat auf ihre Zigarette und atmete blauen Rauch aus.
»Okay.«
»Nie wieder, brüll mich nie wieder so an. Ich meine es ernst. Noch ein einziges Mal, und ich bin weg für immer.« Sofort nahm sie die nächste Zigarette aus der Schachtel. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie mehrmals auf ihr Feuerzeugdrücken musste, bevor die Flamme blieb. Der Ausblick vor ihnen reichte weit in die Ferne und bis zu Dörfern, deren Namen ihm vor langer Zeit entfallen waren.
»Es tut mir leid, Maria.«
»Mach’s dir nicht zu leicht.« Eine Handbewegung, als wollte sie sich die Ohren zuhalten. Nichts hören von seinem anstrengenden Semester, dem Reformchaos oder der zeitaufwendigen Summer School. Ihr heftiges Kopfschütteln sagte: Das hier ist von anderer Art. Sie hatte Merlinger verlassen, damals, weil sie seine Wutausbrüche nicht länger ertragen konnte. Überrascht stellte Hartmut fest, dass er nicht mehr wusste, was er ihr im Auto an den Kopf geworfen hatte. Weniger als eine Viertelstunde war es her, aber hätte er nicht Marias Ohrfeige auf der Wange gespürt, ein zu bloßer Wärme geronnenes Brennen, hätte er glauben können, der Streit läge Jahre zurück.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Dann lass es. Sag nichts.«
»Außerdem weiß ich nicht, wie wir durch diesen Tag kommen wollen.«
Darauf antwortete sie mit einem sarkastischen Schnauben, eine Art ›Was du nicht sagst!‹. Trotzdem war es das erste kleine Zeichen von Zustimmung, und er konnte nicht anders, als Hoffnung zu schöpfen. Als wäre die Wirklichkeit in unzählige Stücke zersprungen und zwei davon hätte er soeben wieder zusammengefügt.
»Hast du schon mal bereut, mich geheiratet zu haben?«, fragte er. »Jetzt oder früher.«
»Ich weiß, was du hören willst. Wie schlimm es nicht war, aber das ...«
»Ich weiß, dass ich mich wie ein Idiot benommen habe.«
»Wie ein Idiot benimmt sich jeder mal. Du warst ein außer Kontrolle geratener Irrer! Zum ersten Mal im Leben hatte ich Angst vor dir. Auf der Gegenfahrbahn! Was zum Teufel ist mit dir los? Bist du krank?« Sie schüttelte sich und presste die Lippen aufeinander.
Wieder öffnete er den Mund, und erneut schnitt sie ihm das Wort ab, bevor er zu sprechen begann.
»Es ist Unsinn, jetzt reden zu wollen. Es gibt nichts zu sagen. Also lass es. Bitte!«
»Ich hab es nie bereut, keine einzige Minute, keine Sekunde. Nie.«
»Und – soll ich mich jetzt gut fühlen? Wenn du’s nicht aushältst, dann warte im Auto auf mich.«
Alle zwei Sekunden musste er die angespannten Muskeln seiner Arme und Beine lockern, wie im Flugzeug nach dem Abheben. Maria wühlte in ihrer Handtasche, die brennende Zigarette im Mundwinkel. Eine merkwürdige Pose, in der sie sich nicht ähnlich sah. Auf der anderen Talseite verlief die Umgehungsstraße, und wenn er hinhorchte, konnte er das Rauschen einzelner Wagen hören. Den Ruhepuls der Provinz am frühen Samstagnachmittag. Braut und Bräutigam putzten sich gerade heraus für das große Ereignis. Letztes nervöses Richten der Frisur. Ein Zupfen an der Krawatte. Erfolglos versuchte Hartmut, sich an die Minuten vor seiner und Marias Trauung zu erinnern. War er alleine, war jemand bei ihm gewesen? Gefeiert hatten sie in der zum Restaurant umfunktionierten Olivenpresse von Celorico. Jetzt blickte er auf die von Asche befreite Feuerstelle, neben der einige auf Meterlänge geschlagene Buchenstücke an das gestrige Fest erinnerten. Wann hatte er sich zuletzt mit solcher Intensität gewünscht, aus dem Lauf der Zeit aussteigen zu können? Wie sollte er den ganzen Tag neben Ruths strahlendem Gesicht und der versteinerten Miene seiner Frau verbringen, ohne den Verstand zu verlieren? Vielleicht wäre es besser, nach Bonn zu fahren und Ruth später zu erklären, was geschehen war.
»Erinnerst du dich an unser Gespräch vor ein paar Wochen?« Marias Stimme
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