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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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helfen, ihn in der Balance zu halten. Im Moment allerdings braucht er Wasser. Dringend! Seine Kehle ist vollkommen ausgetrocknet.
    »Vielleicht hättest du in die andere Richtung fahren sollen«, sagt Philippa resigniert. »Nach Kopenhagen. Ein Treffen auf neutralem Boden würde euch guttun.«
    »Ich wollte dich sehen.«
    »Um mich über Mama auszufragen?«
    »Um dich zu sehen. Um mir ein Bild zu machen, wie du hier lebst und wie’s dir geht. Auch um dir von meinen Plänen zu erzählen. Ich dachte, es interessiert dich. Aber in erster Linie   ...« Er macht eine hilflose Geste mit den Händen und hätte beinahe etwas Theatralisches gesagt: Du bist mein Ein und Alles! Warum musst du schon wieder so distanziert sein! Sieht sie nicht, dass die Entfernung zu Maria nicht die einzige ist, unter der er leidet?
    »Ich wollte dir auch was erzählen«, sagt sie. »Schon lange.«
    »Okay. Sehr gut.« Sein Nicken wirkt zu wissbegierig, das spürt er. »Wollen wir vorher noch was bestellen? Ich hab furchtbaren Durst.« Es wäre ihm lieber, die Bedienung würde weniger Sorgfalt auf die Auswahl der nächsten CD verwenden und sich stattdessen um ihre Gäste kümmern. Kann doch nicht so schwer sein! Notfalls den Coltrane noch mal.
    »Für mich nichts.«
    »Außerdem bekomme ich schon wieder Hunger. Was heißt ›schon wieder‹, ich hab kaum was gegessen heute. Wenig gegessen, fast nichts getrunken.« Er lacht und hat das Gefühl, als würde die Erschöpfung der langen Fahrt ihn plötzlich einholen. Wie ein Schwindelanfall. Oder droht ihm, was Sandrine im Seminar widerfahren ist? Es war ein Fehler, durch halb Spanien zu brettern, als säße ihm der Teufel im Nacken. Entlang leerer Straßen, durch schlafende Dörfer, in den toten Stunden des frühen Nachmittags. Ab León ist er über eine vor Hitze verschwimmende Autobahn gefahren, ohne Musik und meistens zu schnell. Philippa scheint auf einmal weit weg zu sitzen. Er muss sich zusammenreißen, nicht laut Richtung Theke zu rufen: Ich verdurste!
    »Also«, er reibt sich die Hände, »gibt es Neuigkeiten?«
    »Ist dir nicht gut?«
    »Alles bestens. Ich glaube, ich ahne schon, was du mir sagen willst.« Er weiß noch, wie sie rumgedruckst hat bei ihrem ersten Freund. Behauptete immer, sie gehe zu einer Freundin, wenn sie abends das Haus verließ, und wartete draußen auf der Straße, wenn er sie abholen kam. Michael, das Phantom, nannte Maria ihn, nachdem sie ihrer Tochter wenigstens den Namen entlockt hatte. Hartmuts Brust fühlt sich eng an. Ich werde doch jetzt nicht schlappmachen, denkt er. Auf dem letzten Streckenabschnitt, kurz nach dem Verlassen der Autobahn, hat er einen Laster überholt auf der dafür eingerichteten mittleren Spur. War schon halb vorbei, als ihm auffiel, dass rechts von ihm eine durchgezogene Linie verlief. Rechts! Er befand sich auf der Überholspur der Gegenfahrbahn, mitten in einer unübersichtlichen Kurve. Das hektische Bremsmanöver hätte ihn beinahe von der Straße katapultiert, und als er daran zurückdenkt, beginnt er innerlich zu zittern. Wäre ihm in dem Moment ein Wagen entgegengekommen, dann ...
    »Ich bin lesbisch«, sagt Philippa.
    Die Musik hat eingesetzt. Wie von alleine trommeln seine Finger den Takt auf der Tischplatte mit. Eine leise Snare Drum, ein flüsterndes Becken. Er sieht seine Tochter an. Ein vertrautes Bild, dessen Rahmen gerade auseinanderfliegt.
    »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«, fragt sie.
    »Natürlich.« Er spürt das Lächeln auf seinem Gesicht und weiß, dass er beinahe debil ausschaut in diesem Moment. Seine Finger können nicht stillhalten. Hinter Philippas Kopf hängenweitere Porträts aus der Reihe der toten Favoriten. Namen und Gesichter, die er nicht kennt. Wer war Vincent Price?
    Philippa holt tief Luft, aber er kommt ihr zuvor.
    »Weiß es deine Mutter?«
    »Ja.«
    »Gut. Das ist gut. Ich meine ... ja.«
    Hörbar zieht Philippa die Nase hoch, aber ihre Augen bleiben starr auf ihn gerichtet. In manchen Disziplinen sind seine beiden Frauen ihm haushoch überlegen. Er weiß in diesem Augenblick bloß nicht, in welchen.
    »Vorhin«, sagt sie, »auf dem Weg hierher, hab ich gedacht: Egal, wie du reagierst, ich komme aus dem Treffen raus und fühle mich besser. Erleichtert, so oder so. Das heißt aber nicht, dass mir deine Reaktion egal ist.«
    »Du bist eben reifer und klüger, als dein alter Vater immer denken will.«
    »Es war ein Fehler, so lange zu warten. Jetzt kann ich dir nur versichern, dass viel davon

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