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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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abhängt, wie du damit umgehst.«
    »Ich weiß«, sagt er. »Es ist gut, dass das Versteckspiel vorbei ist.«
    »Du hast es gewusst, oder? Insgeheim hast du’s längst gewusst.«
    »Nein.« Er hat Mühe, sich aus seinem Stuhl zu stemmen. »Aber es ist gut, dass ich es jetzt weiß. Glaub mir, ich werde mir Mühe geben.«
    »Okay. Ich bin nicht sicher, ob das reicht.«
    »Unterschätz deinen Vater nicht«, sagt er so entschlossen wie möglich. »Aber jetzt musst du mich einen Moment entschuldigen. Ich bin sofort wieder da.«
    Er steht auf und geht dorthin, wo er die Toiletten vermutet. Ein paar Stufen hinunter in den hinteren Teil des Cafés. Ein alter Computer steht auf einem Holztisch und dürfte eher zur Dekoration gedacht sein als zur Benutzung. Es sind keine Kabel zu sehen. Hartmut schließt die Tür hinter sich, dreht den Wasserhahn auf und trinkt in gierigen Schlucken. Trotzdes metallischen Geschmacks kommt das Wasser ihm vor wie die erste Wohltat seit langem. Er lässt es in beide Hände laufen und saugt es ein. Spürt einen kühlen Strahl bis hinunter in den Magen. Dann richtet er sich auf und schaut in den Spiegel. Fühlt tatsächlich eine Art von Entschlossenheit, ohne zu wissen, wozu. Zur Verstellung wahrscheinlich. Zur Wiederholung einer Erfahrung, die er in seinem Leben oft gemacht hat – dass man sich so lange verstellen kann, bis das Wissen darum verschwindet und die gewünschte Haltung zurückbleibt. Was man Habitus nennt, ist im Grunde nichts anderes, nur die spitzfindigen Franzosen mussten es ›mauvaise foi‹ taufen und ein existenzielles Drama draus machen. Vor langer Zeit hat Sandrine ihm die Bedeutung erklärt: Eine Unaufrichtigkeit, die von Ehrlichkeit nicht zu unterscheiden ist, weil sie sich deren Ziele zu eigen macht. Wenn es kein deutsches Wort dafür gibt, meinte sie, dann seid ihr eben geschickter darin.
    Er nickt seinem Spiegelbild zu. Es ist nichts passiert, er fühlt sich schon besser. Noch einen Schluck trinken und dann wieder zurück. Vor allem kommt es darauf an, die Spuren zu tilgen.

11 Vorsichtig, als hätte er an einem Abgrund geparkt, öffnete Hartmut die Fahrertür. Aus dem Tal stiegen Verkehrsgeräusche auf, fernes Geschrei aus dem Freibad und laute Kirchenglocken. Die grüne Kuppel des Schlossbergs ragte in den Sommerhimmel. Sich von seinem Harndrang nicht zur Eile treiben zu lassen war die einzige Disziplin, die er im Moment aufbrachte und die seine gesamte Person zusammenzuhalten schien. Alles andere erlebte er wie einen bösen Traum. Statt auszusteigen, hätte er in Tränen ausbrechen oder laut lachen, nach seiner Frau rufen oder die Tür wieder schließen und davonfahren können. Den Rest des Tages mit Maria auf einer Hochzeit zu verbringen war von allen Optionen die abwegigste. Sein eigenes Gebrüll lag ihm wie ein schmerzhafter Druck auf den Ohren. Ist das wirklich geschehen?, fragte er sich. Wie hatte er derart die Kontrolle verlieren können?
    Die blühende Brombeerhecke, vor der er sich erleichterte, wurde von Hunderten Bienen umschwirrt. Hartmut blickte nach rechts und links, ob Spaziergänger auftauchten. Maria vermutete er oben bei der Waldhütte, wo sie hoffentlich alleine war, nicht in der neugierigen Gesellschaft von Leuten, die nach dem gestrigen Polterabend dort aufräumten. Reden mussten sie, aber was er sagen sollte, wusste er nicht. Der Streit hatte ihn herauskatapultiert aus der Normalität, und nun kannte er sich nicht aus. Betrachtete seine Finger wie auf der Suche nachHinweisen. Als hätte er sich in sich selbst verirrt. Nur eine leise Stimme im Kopf beharrte darauf, dass sie zu dieser Hochzeit mussten. Gemeinsam und sehr bald.
    Mit langsamen Schritten folgte er dem Waldweg, der im ansteigenden Bogen um die Hütte führte und auf dem oberen Parkplatz endete. Eine grün gestrichene Torwand stand im zertretenen Gras. Daneben ein Kühlwagen mit dem Schriftzug ›Bosch Pils‹. Gestern Abend war der Ort von hundertfünfzig Gästen bevölkert gewesen, jetzt sah er leer und verlassen aus. Maria saß auf einer der massiven, aus halbierten Baumstämmen gehauenen Bänke ohne Lehne. Seine zögerlichen Schritte hatte sie gehört und sich kurz umgesehen, ansonsten zeigte sie keine Reaktion. Nach vorne gelehnt, blickte sie ins Tal und rauchte.
    Hallo, wollte er sagen und tat es nicht.
    Der Platz vor der Hütte war mit bläulichem Splitt aufgeschüttet und kürzlich frisch geharkt worden. Aus einem gemauerten Brunnen tröpfelte Wasser. Es kostete ihn

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