Fliehkräfte (German Edition)
der Beginn einer Aussprache, sondern der Weg um sie herum. Wenige Tage später sind sie inden Urlaub gefahren, und es ging einfach weiter: Harmonie auf Zehenspitzen, eine nervöse Verliebtheit, der sie beide nicht widerstehen wollten. Es war beinahe wie in den ersten Tagen. Irgendwann erschien es überflüssig, noch einmal auf den Vorfall zurückzukommen. Wie hoch der Preis dafür war, haben sie erst später gemerkt, jeder für sich, und seitdem stottern sie ihn ab.
»Wo warst du bei unserem letzten Telefonat?«, fragt Maria.
»Auf einer Autobahnraststätte, auf der Höhe von Tours oder Poitiers. Auf dem Weg zu Bernhard.«
»Und jetzt – bist du in Santiago, und ihr frühstückt zusammen, und es geht euch gut? Oder was? Ich verstehe das alles nicht. Wieso hast du nichts gesagt?« Sie spricht an gegen den Druck ihrer Tränen, das kann er hören. Sogar Philippa scheint es zu hören, jedenfalls wirft sie ihm einen fragenden Blick zu, den er ignoriert. Die beiden Amerikaner beenden ihre Mahlzeit und gehen ins Haus.
»Wir frühstücken zu dritt.«
»Zu dritt.«
»Ja. Ich wurde aufgenommen in den Club der Eingeweihten.« Der Satz macht ihn traurig, aber das ist ihm lieber als die falsche Unbekümmertheit, die er sich schon den ganzen Morgen auferlegt. Unter ihrem Sonnenschirm stecken Philippa und Gabriela die Köpfe zusammen und reden miteinander, ruhig und sachlich und wahrscheinlich über ungesättigte Fettsäuren.
»Sind wir so was wie die Parodie unserer selbst?«, fragt er. »Manchmal kommt es mir so vor.«
»Ich weiß nicht, was das heißt.« Maria schnäuzt sich und zieht an ihrer Zigarette. Normalerweise raucht sie so früh nicht.
»Wann hat sie’s dir gesagt?«
»Vor knapp einem Jahr. Ich hab sie mehrfach gebeten, es dir auch zu sagen, aber ich konnte es nicht an ihrer Stelle tun. Es ist ihre Entscheidung. Ihr Leben.«
»Warum, glaubst du, hat sie’s dir zuerst erzählt?«
»Hartmut, ich hab Angst, dass du was kaputt machen wirst. Tu’s nicht.«
»Sag einfach. Was glaubst du, warum?«
»Wahrscheinlich weil sie dachte, dass es für mich ein kleineres Problem darstellt. Falls es dich tröstet, ich bin nicht sicher, ob das stimmt. Ich wünschte, es wäre anders, aber ich habe ein Problem damit. Es ist schäbig, und ich schäme mich, aber ich habe ein Problem. Mein erster Gedanke war: Warum tust du mir das an? Und der zweite: Sag es niemals deinen Großeltern! Den zweiten hab ich sogar ausgesprochen.«
»Ja, wir sind eine Parodie unserer selbst.«
»Tu’s nicht, Hartmut. Ich bitte dich. Sie ist dir ähnlicher, als du glaubst. Wenn du sie in die Ecke drängst, wird sie wild. Alles andere als vollständige Akzeptanz ist ihr zu wenig.«
Philippa scheint zu ahnen, dass es um sie geht und blickt erneut in seine Richtung. Dann stehen sie und Gabriela auf, die leeren Teller in den Händen.
»Du hast gesagt zu dritt«, sagt Maria. »Mit Gabriela?«
»Du kennst sie?«
»Die beiden waren einmal zusammen in Berlin. Sie ist nett, oder?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich.« Hartmut schaut den beiden hinterher und zuckt mit den Schultern, als ob Maria ihn sehen könnte. »Übrigens habe ich letzte Nacht davon geträumt, wie wir zusammen den Joint geraucht haben. Wieso haben wir das nur ein Mal gemacht?«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass du es wiederholen willst.«
»Will ich aber. Nur den Joint, nicht das davor.«
»Dann tun wir’s. Wie geht’s jetzt weiter? Bleibst du in Santiago? Was wird aus unserer Reise?«
»Philippa und ich fahren morgen nach Lissabon. Dann wahrscheinlich weiter nach Rapa. Entweder geht es deinem Vater besser und wir machen Urlaub, oder es kann nicht schaden, wenn jemand da ist. Am besten du kommst nach. Wir bleiben ein paar Tage bei deinen Eltern und fahren durch Spanien und Frankreich zurück. Wie damals. Wie lange musst du in Kopenhagen bleiben?«
»Noch zwei Tage, wenn alles glattgeht. Bis jetzt ist nichts glattgegangen.«
»Wie wurde die erste Aufführung aufgenommen?«
»Höflicher Applaus«, sagt sie. »Es ist schrecklich hier, ich kann nicht mehr.«
»Mach’s wie ich. Hau einfach ab.«
»Du weißt, dass das nicht geht. Es gibt ein Ensemble.«
»Hier auch, und was für eins. Wir kennen nicht mal das Stück, das wir spielen.« Damit bringt er Maria zum ersten Mal zum Lachen. Philippa und Gabriela tragen die nächste Portion Vitamine auf die Terrasse. »Such nach einem Flug und melde dich. Wenn es irgendwo auf der iberischen Halbinsel ist, hole ich dich
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