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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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bringt, dreht er sich um und schiebt die drei Briefbögen beiseite. Sieht seiner Sekretärin entgegen, als wollte er sagen: Sehen Sie, ich tue gar nichts. Ich bin bloß da. Seit einer Woche ist es, als wäre er auf der Autobahn auf die rechte Spur gewechselt und bummelte zwischen Lastern und Bussen dahin, ohne sich um den Zeitverlust zu scheren. Die wachsende Zahl nicht korrigierter Seminararbeiten und unbeantworteter E-Mails in seinem Posteingang amüsiert ihn lediglich.
    »Herr Breugmann war schon hier«, verkündet sie beim Abstellen der Tasse. »Wollte sich nach Ihnen erkundigen.«
    »Sich nach mir erkundigen?«
    »So hat er’s ausgedrückt. Er sei im Haus und stehe zur Verfügung.« Die Benutzung des Milchkännchens überlässt sie ihm. Lauter eingespielte Rituale, das beruhigende Alles-wie-immer des täglichen Lebens. Dazu der Veilchenduft von Frau Hedwigs Parfüm, stets ein wenig zu stark, genau wie der Kaffee.
    »Nämlich zu welcher Verfügung?«
    »Das hat er nicht gesagt.« Sie sieht ihm zu, wie er den gewohnten Schuss Milch zugibt, und nickt dabei, als versuche sie, sich die genaue Dosierung einzuprägen. »Eigentlich sieht der Kollege putzig aus, wenn er versucht, Wärme auszustrahlen. Als wüsste er genau, dass es da einen Knopf gibt, nur hat er vergessen, wo. Er meinte, er weiß, wie Ihnen zumute ist.«
    »Wenn er sich da mal nicht täuscht.«
    »Soll ich Anrufe durchstellen oder abwimmeln?«
    »Abwimmeln, danke. Es sei denn, meine Tochter ruft wieder an.«
    »Die süße Kleine. Tut sie bestimmt.« Mit dem Kännchen in der Hand will Frau Hedwig gehen, aber ihr Blick bleibt an den ausgebreiteten Briefbögen hängen, und ein zuverlässiges Gespür verrät ihr, dass er danach gefragt werden möchte. Neben Philippas Anrufen gehören die kurzen Unterredungen mit seiner Sekretärin zu den angenehmsten Zerstreuungen dieser Woche. Ihr kräftiges, auf dem Kragen der hellen Bluse wie aufgepfropft sitzendes Kinn macht eine träge Bewegung.
    »Mein Doktorvater aus Amerika«, sagt er. »Keine Kondolenz, er will mich besuchen. Das heißt, genau genommen will er begleitet werden an den Ort, wo sein Bruder ums Leben gekommen ist. Im November vierundvierzig, Sie verstehen. Kennen Sie sich in der Eifel aus?«
    »In Monschau hab ich eine geschiedene Schwägerin. In besseren Tagen bin ich dort gewandert.«
    »Er schreibt, es sei vermutlich die letzte Gelegenheit, den Ort mit eigenen Augen zu sehen. Obwohl er selbst nicht genau zu wissen scheint, warum er das will.«
    »Hürtgenwald?«
    Hartmut nickt. »Wussten Sie, dass der Name von den Amerikanern geprägt wurde? Für ihre Ohren klang es wie ›to hurt‹ mit deutscher Endung. Wir haben damals viel Zeit damit verbracht, die Todesumstände seines Bruders zu rekonstruieren. Weit gekommen sind wir nicht.« Mit den Augen überfliegt er ein paar Zeilen und liest die Worte ›Individual Deceased Personnel File‹. Marsha lässt ihn grüßen und hofft, ihn noch einmal in Amerika bewirten zu können wie damals. Die Reise mitzumachen sei für sie ausgeschlossen. Auch in Stans Fall ist der Arzt nicht angetan von der Idee – was den alten Mann natürlich nicht abhält. »Ich wusste, dass das eines Tages auf mich zukommt. Merkwürdig, dass es jetzt geschieht.«
    »Können Sie’s nicht aufschieben?«
    »Letzte Gelegenheit, so was sagt der Mann nicht leichtfertig. Von der Reise hat er schon gesprochen, als ich sein Student war. Im November will er kommen, zum Todestag des Bruders. Nein, ich kann’s nicht aufschieben. Will ich auch nicht. Ich schulde ihm mehr als das.«
    »Geben Sie Bescheid, wenn ich helfen soll.«
    »Danke, ein Hotel werden wir brauchen. Und wenn sie kommt, sagen Sie Frau Ulrich bitte, sie möchte in der Uni-Bibliothek ... nein. Nein, das mache ich heute Nachmittag selbst. Das erledige ich, nachdem ich geschlagene zwei Stunden lang gar nichts getan habe. Was meinen Sie? Komme ich Ihnen verändert vor?«
    Frau Hedwig holt Luft, um zu antworten, aber nebenan fährt das Klingeln des Telefons dazwischen.
    »Ich setz noch mal Kaffee auf«, sagt sie nur und verlässt gemächlichen Schrittes sein Büro.
    Hartmut nimmt seine Tasse in die Hand und dreht den Stuhl wieder zum Fenster. Das lichter werdende Blattwerk gibt den Blick frei auf die Schlosskirche und den Gebäudeflügel entlang der Franziskanerstraße. Noch mehr Büros, in denen unter langen Neonröhren Wissen erworben, gesichtet, geordnet und verwaltet wird. In einer Zeit, deren Zeichen auf Pragmatismus stehen,

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