Fliehkräfte (German Edition)
Meister sie, wie immer ohne ein Wort zu sagen. Die Schüler gehen, um sich am nächsten Tag wieder in die Höhle des Meisters zu begeben und die Unterweisung fortzusetzen. Allerdings treffen sie ihn nicht an, er ist über Nacht verschwunden. Das Einzige, was er zurückgelassen hat, ist ein Stück Stoff. Fast vollständig bemalt, nur in der Mitte hat der Meister ein kleines Stück in der Form des Mondes freigelassen.« Hartmut zuckt mit den Schultern und fühlt Schweiß aus seinen Achseln rinnen. »Das ist die Geschichte. Sie heißt: Die andere Art, den Mond zu malen.«
»Das ist alles?« Philippa sieht nicht beeindruckt aus.
»Wenn ich mich richtig erinnere, ja. Der letzte Satz lautet: Und die Schüler verstanden. Deine Mutter mochte sie.«
»Meine Mutter hat bekanntlich ihren eigenen Geschmack.Soll das ein Gleichnis sein?« Mit bohrendem Blick schaut sie ihn an. »Will der Meister vom Venusberg uns was Bestimmtes sagen?«
»Mein Doktorand wollte folgern, dass es im chinesischen Altertum Formen von dialektischem Denken gab. Das fand ich etwas überinterpretiert. Aber die Geschichte hat was, oder nicht? Keine Ahnung, was sie bedeutet. Es gibt immer zwei Arten, etwas zu betrachten oder auszudrücken. Die direkte und die andere.«
Statt weiter mit ihm zu kabbeln, wiederholt Philippa die Geschichte noch einmal auf Portugiesisch und mit kurzen Seitenblicken zu ihm.
»Mit so was beschäftigt mein Vater sich nämlich beruflich«, fügt sie hinzu. Gabriela scheint die Geschichte zu mögen, aber auf Deutsch fällt ihr nichts dazu ein. Hartmut isst den letzten Bissen Tortilla und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Wird er sich eines Tages unbefangen freuen, wenn Philippa mit ihrer Freundin zu Besuch kommt? Es ist die Frage selbst, die ihm ein entmutigendes Gefühl von Entfernung vermittelt. Die Frage, die Stille und dann die Erleichterung, als sein Telefon vibriert und Marias Name auf dem Display erscheint.
Hartmut greift danach und steht auf.
»Das ist unhöflich jetzt, aber du hast es selbst zu verantworten.«
»Schönen Gruß«, antwortet Philippa nur.
Er geht in den hinteren Bereich der Terrasse, setzt sich auf die kniehohe Mauer und drückt den grünen Knopf.
»Hallo«, sagt er möglichst unbefangen, »guten Morgen.«
»Guten Morgen.« Marias Tonfall schwankt zwischen besorgt und vorwurfsvoll. »Ich weiß nicht genau, wie ich das zu verstehen habe. Erst hinterlässt du mir eine Nachricht, die im Wesentlichen aus Flüchen besteht, dann gehst du zwei Tage lang nicht ans Telefon. Das Erste, was ich schließlich von dir höre beziehungsweise sehe, ist was? Ein Stück Kuchen? Willst du das erklären? Ich komme mir ein bisschen ...«
»Das Bild hat Philippa geschickt. Es ist ein Stück Tortilla.«
»Die Nachricht kam von deinem Handy.«
»Ja. Sie hat es von meinem Handy geschickt. Ich bin in Santiago.« Damit macht er Marias Verwirrung komplett und kann einen Moment durchatmen. Die Mauer ist angenehm kühl. Durch den Stoff des Schirms blickt Hartmut in das gleißende Auge der Sonne. »Mein Akku war leer, ich meine der von meinem Telefon. Meiner auch. Jedenfalls konnte ich zwei Tage nicht telefonieren. Was für eine Nachricht mit Flüchen?« Er dachte, er hätte wortlos aufgelegt in seinem Strandhotel an der Costa Verde.
»Seit wann bist du in Santiago? Was ist mit meinem Vater? João schickt mir eine SMS und schreibt was von Krankenhaus, seitdem ist er nicht zu erreichen. In Rapa geht niemand ans Telefon. Was zum Teufel ist los?«
»Beruhig dich, Maria. Dein Vater hatte Herzbeschwerden. Ein Arzt sagt, es könnte ein leichter Infarkt gewesen sein. Artur behauptet, es gehe ihm wieder gut. Heute soll er in Guarda untersucht werden. Mehr weiß ich auch nicht. Nach einem Notfall hört es sich nicht an.«
»Seit wann bist du in Santiago?« Sie ist immer noch zu besorgt und verwirrt, als dass ihre Stimme den gewohnten Klang annehmen könnte.
»Seit gestern. Mir ist in Bonn die Decke auf den Kopf gefallen, also bin ich losgefahren.«
»Gefahren? Du bist mit dem Auto unterwegs?«
»Ich war in Paris und bei Bernhard Tauschner in Südfrankreich. Jetzt bin ich hier. Mit dem Auto, ja.«
Maria zündet sich eine Zigarette an und macht zwei schnelle Züge. In seiner Erinnerung sind der Traum von letzter Nacht und jener Nachmittag in Bergenstadt kaum zu unterscheiden. Gemeinsam einen Joint zu rauchen, sieht im Rückblick wie ein Akt der Versöhnung aus, in Wirklichkeit war es das, was sie stattdessen gemacht haben. Nicht
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