Fliehkräfte (German Edition)
derweil die Theorie in Ehren ergraut. Verstehen heißtkorrekt anwenden können. Der Kanzlerkandidat der SPD heißt Schröder und hatte in den letzten Umfragen die Nase vorne. Glaubt man ihm, gibt es hier das Machbare und dort Gedöns. Eine Welt ohne Pathos. Letztes Wochenende, im Anschluss an die Beerdigung, hat Hartmut sich von seinem Neffen Felix erklären lassen, warum jetzt der ideale Zeitpunkt sei, um ein nutzloses Politikstudium hinzuschmeißen und auf den Dotcom-Zug aufzuspringen. Reich werden im Handumdrehen, nicht des schnöden Mammons wegen, sondern weil es das Ding ist, das man nicht verpasst haben will, wenn man sich eines Tages zurücklehnt und von früher erzählt. »Wie bei euch Woodstock oder die APO.« Zusammen mit Freunden tüftelt er an der Idee, übers Internet Zubehör für vermögende Haustierhalter zu vertreiben. Sachen, die kein Mensch braucht, und Tiere schon gar nicht, aber wenn sie es richtig anstellen, wird es ein Erfolg. Das kann man nicht begründen, es ist so. Gesetze regieren die Welt, die niemand aufgestellt hat und die folglich nicht zu ändern sind. Rund hundertachtzig Jahre später, als Hegel glaubte, ist die Geschichte tatsächlich zu Ende.
Langsam trinkt Hartmut seinen Kaffee. Und er? Mit fünfzig, hat er kürzlich jemanden sagen hören, beginne das Niemandsland des Alterns, das freie, leicht abschüssige Gelände vor den Fallgruben der ernsthaften Gebrechen. Bisher beschränkt es sich auf Rückenschmerzen und die gelegentliche Frage, ob das alles war. Ab und an nickt sein Arzt ihm aufmunternd zu und empfiehlt Bewegung im Freien. Gedanken an Sex begleiten ihn ständig, wenn Maria und er ihn haben. Seine Tochter ist unterdessen elf geworden und schließt seit einigen Wochen die Badezimmertür hinter sich ab. Sitzt kaum noch auf seinem Schoß, und wenn, dann fühlt es sich komisch an. Das rasende Dahinschleichen der Zeit. Erstaunter als über die Wehmut ist er über die Erleichterung, mit der er die Zäsur herannahen spürt. Ein Mal ist es schon vorgekommen, dass er vor dem Melbbad gefragt wurde, ob er auch auf seine Enkel warte.
Und jetzt Stan Hurwitz.
Am frühen Nachmittag geht er in die Uni-Bibliothek und ist erstaunt über die geringe Ausbeute, als er nach dem Schlagwort ›Allerseelenschlacht‹ sucht. Auf Deutsch gibt es zu dem Thema wenig Literatur; das war schon damals so und einer der Gründe, weshalb seine Mitwirkung an Hurwitz’ Projekt vor allem im Zuhören bestanden hat. Aus der ebenfalls überschaubaren englischsprachigen Literatur entscheidet sich Hartmut für einen Titel, den er in Minneapolis glaubt gelesen zu haben: The Battle of the Huertgen Forest von Charles B. MacDonald. Zwei weitere Bände muss er vorbestellen, weil sie entliehen sind und er keine Lust hat, im Historischen Seminar vorbeizuschauen. Mit dem Buch in der Hand geht er den Rhein entlang. Es ist ein warmer Tag geworden, das richtige Wetter für Jogger und Hundehalter, für junge Eltern und ihre Kinder. Mit vollbesetztem Deck zieht die Filia Rheni flussaufwärts.
Zurück im Büro blättert er durch die Einleitung und das beigefügte Kartenmaterial und hört nebenan Frau Hedwig telefonieren. Ortsnamen kehren zurück aus der Vergessenheit von zwanzig Jahren. Die kriegerisch düsteren Bezeichnungen für Landstriche und Flurgebiete: Ochsenkopf, Todtenbruch und das riesige Minenfeld namens Wilde Sau. Beim Lesen sieht er Hurwitz über eine Straßenkarte gebeugt, worauf sie die Positionen der verschiedenen Regimenter markiert hatten und vergebens versuchten, den Frontverlauf zu rekonstruieren. Zu viele enge Täler, zu viel Hin und Her, oft war eine Dorfhälfte in deutscher und die andere in amerikanischer Hand. Vossenack, das eigentliche Zentrum der Kämpfe. Es dauert eine Weile, bis Hartmut bemerkt, dass er in dem Bibliotheksexemplar herumstrichelt, als wäre es sein eigenes. Am schlimmsten hatte es die 28. Division erwischt, in deren 112. Regiment Joey Hurwitz die letzten drei Tage seines Lebens verbrachte. Über die Angehörigen eines anderen gefallenen GI ist Stan an eine Skizze gekommen, die den Fundort der Leichen verzeichnet. Wann er sie erhalten hat, schreibt er nicht. An den entscheidenden Stellen klingt sein Brief ungewohnt zurückhaltend, beinahe ängstlich.Als wollte er die Reise gar nicht unternehmen, sondern hätte bloß die letzte Entschuldigung verloren, sie weiter aufzuschieben.
Kurz nach halb drei, als nebenan die Stimme seiner Sekretärin einen ungewöhnlich herzlichen Klang
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