Fliehkräfte (German Edition)
reagierte – das sagte Maria nicht, aber Hartmut konnte es aus ihren Worten heraushören.
»Schlechte Stimmung allenthalben.« Er leerte sein Glas und spürte augenblicklich das Verlangen nach dem nächsten.
»Für mich heißt es wahrscheinlich, dass ich nicht zum Polterabend kommen kann«, sagte Maria.
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Falk hat für denselben Freitag einen Kreis angesetzt.« Weniger exzentrische Naturen als Merlinger würden einfach eine Sitzung einberufen. »Ich komme zur Hochzeit, aber am Freitag geht es nicht. Tut mir leid.«
Weil ihm keine Erwiderung einfiel, stellte Hartmut sein Glas ab und hielt den Hörer ans andere Ohr. Draußen setzte die Dämmerung ein. Es überraschte ihn, wie sehr die Nachricht ihn enttäuschte. Daraus folgte eine Verschiebung ihres Wiedersehens um einen Tag. Schlimm? Ruth würde das Fehlen ihrer Schwägerin beim Polterabend bedauern und sich ansonsten nichts anmerken lassen. Eine winzige atmosphärische Störung, leicht auszubügeln auf der Hochzeitsfeier am Samstag. Hartmut ging zum Kühlschrank und nahm die nächste Flasche Alvarinho heraus.
»Nichts zu machen, nehm ich an«, sagte er und versprach, Maria am besagten Samstag in Marburg abzuholen.
»Ich freu mich drauf«, versicherte sie vor dem Auflegen. Als würden sie einander vorher nicht mehr sprechen.
Danach stand er in der offenen Terrassentür und sah hinaus in den Abend. Zwei Jogger trabten gemächlich Richtung Casselsruhe. Der Wein schmeckte gut und verstärkte die Drift. Seit Bernhard Tauschner das Institut verlassen hatte, gab es niemanden mehr, mit dem er sich spontan verabreden konnte. Abend für Abend saß er alleine am Schreibtisch oder in der dröhnenden Stille des Wohnzimmers. Hing seinen Gedanken nach. Trank. Dem Weniger an ehelicher ›quality time‹ entsprach ein Mehr an Dingen, die er sich bei einer Flasche Wein zumindest vorstellen konnte. Ohne aktiv nach Gelegenheiten zu suchen, bemerkte er seit einiger Zeit eine erhöhte Sensibilität für Situationen, in denen die zarten Vorstufen von Gelegenheiten sichtbar wurden. Ein etwas mehr als freundliches Lächeln in der Sprechstunde. Neulich am Telefon der Satz ›Gerade habe ich an Sie gedacht‹, mit dem die attraktive Frau Müller-Graf ihn schon zum zweiten Mal begrüßte. Es ging immer noch um die Einpassung der vermaledeiten Module. Ob sie ihm die neuesten Richtlinien schicken solle, oder – »Nein, wissen Sie was? Ich muss sowieso in Ihren Schlossflügel. Haben Sie kurz Zeit?« Bald darauf trat sie in ihrem eleganten Hosenanzug in sein Büro, hatte einen Computerausdruck in der Hand und die rötlichen Haare hochgesteckt. Ihr unternehmungslustiger Blick schien zu sagen: Da bin ich. Was machen wir jetzt?
Mit dem Telefon in der Hand stand Hartmut vor der Terrassentür. Wie von alleine tippten seine Finger auf der Tastatur herum. Gespeicherte Nummern zogen über das Display. Unter ›Tauschner‹ stand immer noch Bernhards seit Jahren toter Anschluss. Als Nächstes ›Taxi‹ und die Frage, warum er nicht mal alleine runter an den Rhein fahren sollte? Einfach ein bisschen schlendern und schauen. Weil es ein schöner Abend war.
Der Regionalexpress von Kassel nach Frankfurt hatte zwölf Minuten Verspätung. Als seine Einfahrt schließlich angekündigt wurde, stand Hartmut seit einer halben Stunde auf dem Bahnsteig und beobachtete das Geschehen. Die missmutigen Blicke wartender Fahrgäste und die Erleichterung in den Gesichtern derer, die schwer atmend die Treppen hinaufgehastet kamen. Junge Paare verharrten in inniger Umarmung. Dann kam Bewegung in die Menge, Gepäckstücke wurden auf- und Kinderan die Hand genommen, bevor die doppelstöckigen Waggons die Gleise entlangrollten und quietschend zum Stehen kamen. Hartmut hielt sich die Ohren zu. Die Uhr unter dem Vordach zeigte Viertel vor zwei.
Er entdeckte seine Frau in der offenen Tür, hob die Hand und arbeitete sich in ihre Richtung vor. Maria trug ein Kleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Eine kurze Begrüßung mit den Augen, dann schlossen sie einander in die Arme. Fast ein Monat war seit dem letzten Mal vergangen. Eingekeilt zwischen Gepäckstücken und drängelnden Fahrgästen waren sie einen Augenblick miteinander alleine.
»Ich hab so viel Gepäck dabei, als würde ich umziehen«, sagte Maria lachend.
»Lange nicht gesehen.«
»Oh. Ja. Hallo.«
Noch einmal drückte er sie an sich, bevor ihr nächster Kuss sagte: später mehr. Er nahm den Koffer und die größere der
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