Fliehkräfte (German Edition)
T-Shirt trugen und auch sonst Homogenität ausstrahlten. Natürlich hatte er mehrfach erklären müssen, wo seine Frau war und was sie neuerdings machte in Berlin. Übrigens glaubte er, dass Ruth seit dem Umzug seltener ›Maria‹ und häufiger ›deine Frau‹ sagte, aber auch das könnte er sich einbilden.
»Wie war euer Treffen gestern?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. »Konntet ihr das Problem lösen?«
»Nicht wirklich.«
»Woran hapert’s?«
»Fragst du oder ...?«
»Ich frage.«
Sie zögerte und sah aus dem Seitenfenster.
»In diesem Ton.«
Kurz nahm er die Hände vom Lenkrad und machte eine ratlose Geste. Lass uns reden, dachte er, obwohl er selbst spürte, was ihr an seinem Tonfall missfiel. Ein bisschen zu beschwingt und jovial, wie so oft, wenn es um ihr Engagement in Berlin ging. Maria wusste, dass seine Fragen unter eine vor dem Umzug getroffene Abmachung fielen: Bezüglich Falk Merlingers durfte er alles fragen. Der arglose Ton, in dem er es zu tun versuchte, war zwar nicht Teil der Abmachung, setzte sie aber auch nicht außer Kraft.
»Die Besprechung war unerquicklich«, sagte sie schließlich. »Falk kann nicht kritisieren, ohne zu verletzen. Auch wenn es um Kleinigkeiten geht, da ist immer dieser ... diese Gereiztheit. Sogar wenn er sich Mühe gibt, was nicht oft vorkommt. Er kann nicht anders.«
»Wen kritisiert er, dich?«
»Oder er braucht es als Ventil. Als ginge es nicht um den Inhalt der Kritik, sondern ums Kritisieren an sich. Darum, dass er es besser weiß. Am meisten nervt es die Schauspieler, und dass jetzt einer abgesprungen ist, hat wahrscheinlich damit zu tun.«
»Dich nervt es nicht?«
»Ich kenne ihn, ich kann damit umgehen.«
»Warum ist er eigentlich so bitter?«
Statt zu antworten, seufzte sie und zuckte mit den Schultern. Hartmut legte eine Hand auf ihren Oberschenkel. Das Gefühl von Haut unter dem dünnen Stoff weckte sein Verlangen nach Zärtlichkeiten. Der Zug hatte Verspätung gehabt, aber wenn sonst nichts Unvorhergesehenes passierte, blieb ihnen in Bergenstadt eine Stunde, bevor um halb vier die Trauung begann.
»Trotzdem, es nervt mich«, sagte Maria leise, »dass ich immer mehr zum Medium zwischen Regisseur und Ensemble werde.Zum Puffer beinahe. Wahrscheinlich hat er mich von Anfang an für diese Funktion vorgesehen. Er braucht jemanden, der für ihn kommuniziert.«
Sie hatten den Kamm der Anhöhe erreicht, und die Straße lud ein zum schnellen Fahren. Sonnenlicht fiel durch eine Fichtenschonung und warf längliche Schatten über den Asphalt.
»Du hast nicht beantwortet, warum er so ...«
»Weil ich es nicht weiß. Warum sind Leute, wie sie sind? Damals wollte niemand seine Stücke, keiner hat ihn ernst genommen. Nach der Wende kam der Erfolg, hat eine Weile angehalten, und jetzt schreiben alle, dass er seinen Biss verloren hat. Vielleicht liegt es daran.«
»War er während des großen Erfolgs auch bitter?«
»Keine Ahnung. Damals hatten wir nicht viel Kontakt.« Du weißt das alles. Warum fragst du? Dabei sprach sie ruhig und ohne Widerwillen, beinahe so, wie sie abends im Wohnzimmer geredet hatten, als Maria noch in Bonn wohnte.
»Also, es ist alles ziemlich anstrengend. Ja? Die Arbeit in Berlin.«
Kurz sah sie ihn an und lächelte, als wüsste sie genau, worauf er hinauswollte. Das flirrende Licht, dieser schnelle Wechsel von Schatten und Sonne, erzeugte ein Schwindelgefühl, das sein Verlangen noch verstärkte. Einen Moment lang fragte er sich allen Ernstes, ob er in einen der kleinen Waldwege abbiegen sollte und ... Dann nahm er die Hand von ihrem Bein und musste lachen.
Maria drehte den Kopf.
»Was?«
»Nichts. Manchmal komme ich mir selbst komisch vor, das ist alles. Schönen Gruß von Hans-Peter und Lori übrigens. Sie fanden’s schade, dass du nicht in Bonn warst.« Hans-Peter war ein Kommilitone aus Berliner Zeiten, der seit über dreißig Jahren in den USA lebte. Inzwischen war er Professor in Berkeley und hatte auf der Summer School den Hauptvortrag gehalten. Seine Frau Lori begleitete ihn auf allen Konferenzreisen, sofernsie an Orte führten, die ihrem unstillbaren Kulturhunger Nahrung boten.
»Danke«, sagte Maria. »Wie viele Museen hat Lori geschafft?«
»Sie hat wie immer alles gegeben. Wallraf-Richartz, Ostasiatische Kunst, Museum Ludwig. Das war wieder mal einen wirklich großartigen Tag in Köln«, sagte er in Loris amerikanischem Akzent, der Maria bei früheren Gelegenheiten zum Lachen gebracht hatte. »Was sie in
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