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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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paar Schritte durchs Zimmer. Las Titel von den Buchrücken ab und murmelte sie halblaut vor sich hin, bevor er in die Küche ging, um vor dem offenen Kühlschrank einen Schluck Wein zu trinken. Halb zwölf zeigte die Uhr am Herd, Maria schlief sicherlich schon. Noch einmal drückte er den Zeigefinger gegen sein Ohr und erinnerte sich an Geschichten von Kollegen, die stressbedingt an einem Tinnitus litten, vorübergehend oder auf Dauer, in zwei Fällen bis zum Verlust der Konzentrations- und damit der Berufsfähigkeit.
    Scheiße, dachte er. Das hatte gerade noch gefehlt.
    In den nächsten Wochen trat das Geräusch gelegentlich auf und störte ihn beim Einschlafen, aber so schlecht wie er seit Monaten schlief, fiel das kaum ins Gewicht. Der Auszug von Maria und Philippa hatte ihn des Ausgleichs beraubt, mit dem er durch frühere Stressphasen gekommen war. Abend für Abend betrat er ein leeres, dunkles Haus. Philippa ging es gut in Hamburg, das war ein Trost. Am Telefon klang Maria aufgeräumt und voller Schwung, er selbst versuchte, in möglichst kleinen Zeiträumen zu denken: bis zum nächsten Telefonat, dem geplanten Besuch in Berlin, maximal bis zu den kommenden Ferien. Früher hatte er am Schreibtisch weder Musik gehört noch Alkohol getrunken, nun kramte er alte Jazzplatten hervor und fand, dass ein Glas Wein ihm half, eine Stunde mehr aus sich herauszuholen. Am letzten Juli-Wochenende sollte die Hochzeit seines Neffen Florian stattfinden, zu der auch Maria und Philippa anreisen wollten. Danach ein paar ruhige Tage in Bonn, bevor Maria und er nach Portugal fliegen würden. Philippa war neuerdings ein Fan des Nordens und wollte mit Kommilitonen durch Schweden reisen. In einer Mail an seine Tochter erwähnte Hartmut scherzhaft den kleinen Mann im Ohr, der ihn bereits jetzt nach Rapa rufe, aber Maria gegenüber sagte er nichts. Seit dem Umzug kam sie ihm immer jünger vor, also wollte er nicht wegen solcher Wehwehchen älter erscheinen, als er war. Stattdessen biss er die Zähne zusammen, erfüllte seine administrativen Pflichten und arbeitete jede Nacht von elf bis eins am Vortrag für die Summer School, deren Ende auf denselben Freitag fiel wie Florians Polterabend. Er würde morgens packen und gleich nach der letzten Sitzung losfahren.
    Das letzte nennenswerte Ereignis vor der Hochzeit war sein Zusammenstoß mit Benedikt Herwegh. Der Kollege gab ein gutes Beispiel ab für das, was Amerikaner ›a pain in the ass‹ nennen. Studenten, die bei ihm einen Schein zu erwerben wünschten, bekamen eine Liste ausgehändigt mit Anweisungen wie ›Siebtens: Bei der Titelgebung sind Formulierungen mit und zuvermeiden.‹ Professor Herwegh war stolz und verschroben, trug Tweed und Fliege, sah Gesprächspartnern nicht in die Augen und litt darunter, bei aller Brillanz seiner Schriften ein ausgesprochen schlechter Redner zu sein. Auf Podien wirkte er wie ein nervöser Prüfling, der sich dauernd verhaspelt.
    Weil Herwegh seine Bürotür stets von innen absperrte, musste Hartmut an jenem Donnerstag mehrmals klopfen, bevor ihm zögerlich geöffnet wurde. Trotzdem betrat er den Raum voller Zuversicht und guten Willens. Nur noch diese Unterredung und seine Vorlesung auf der Summer School trennten ihn vom ersehnten Ferienbeginn. Das verregnete Frühjahr war einem strahlenden Sommer gewichen, aber im Zimmer roch es muffig.
    »Sie wünschen?« Herweghs näselnder Tonfall erinnerte an einen soignierten englischen Butler.
    »Ein Gespräch, wenn Sie ein paar Minuten haben.«
    »Ein Gespräch worüber?«
    »Vielleicht setzen wir uns kurz«, sagte Hartmut und machte einen Schritt auf die Sitzecke zu. Zwei schöne alte Ledersessel, deren einer dunkel eingefärbt war vom Schweiß, den Studenten darauf vergossen hatten, während Herwegh die Fehler in ihren griechischen Zitaten aufzählte. Draußen vor dem Fenster wogte ein grünes Blättermeer und versperrte die Sicht auf die Schlosskirche. Warum Herwegh keine frische Luft hereinließ, blieb wie so vieles sein Geheimnis. Einstweilen stand er bewegungslos vor der Tür und wiederholte seine Frage: »Ein Gespräch worüber?«
    Mit Mühe unterdrückte Hartmut einen Seufzer.
    »Leider muss ich noch einmal auf die Sitzung von heute Morgen zurückkommen.«
    »Die Entscheidung wurde vertagt.«
    »Genau genommen wurde sie nicht vertagt, sondern die Zeit lief ab, und Kollegen hatten ihren Verpflichtungen nachzukommen. Aber der einzige Widerstand gegen den Beschluss kam von Ihnen, und ...«
    »Wir werden

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