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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Bonn gesehen hat, weiß ich nicht. Wir waren nur einmal essen.«
    »Geht’s ihnen gut?«
    »Die beiden ändern sich nie. Lori schwärmt und Hans-Peter analysiert wie mit dem Seziermesser. Sie kann über alles sprechen, er nur über Philosophie. Im Grunde reden sie ständig aneinander vorbei, aber sie scheinen nie zu streiten. Bemerkenswert.«
    »Hm.«
    »Jedes Mal, wenn ich Hans-Peter sehe, denke ich daran, wie er mich zum ersten Mal eingeladen hat. Einundsiebzig oder zweiundsiebzig, um auf sein erstes Stipendium anzustoßen. Er hatte ein Zimmer in der Nähe vom Mehringdamm, und irgendwann, als ich ihn drauf angesprochen habe, meinte er ...«
    »Frauen, ja. Frauen sind ein Problem.« Maria sah ihn nicht an, sondern zitierte mit Blick aus dem Seitenfenster.
    »Okay. Vielleicht hab ich das schon mal erwähnt.«
    »Hat er dich wieder geärgert?«
    »Nein. Ich werde alt, Pardon. Kommt nicht wieder vor.« Obwohl sie auf eine Kurve zufuhren, ließ er erneut das Lenkrad los, diesmal in einer Geste, die sowohl Unschuldsbekundung als auch Gelöbnis zur Besserung bedeuten konnte. Dass sie ihn bei ihrem Wiedersehen so bloßstellte, fand er unnötig – obwohl er selbst darum gebeten hatte, auf gewisse Alterserscheinungen hingewiesen zu werden.
    Sie verließen das kleine Waldstück. Offenbar war die Straße kürzlich ausgebaut worden, jedenfalls verlief sie breiter und gerader als in seiner Erinnerung. Weit weg standen weiße Wolkenüber der Landschaft. Dörfer nestelten sich in die Vertiefungen zwischen bewachsenen Hügeln. Seine Heimat, wenn man das Wort auf seinen sachlichen Gehalt beschränkte.
    »Noch mal zurück zum vorigen Thema«, sagte er gegen die einsetzende Stille. »Was ist die Quintessenz? Was heißt das alles für die Zukunft?«
    »Was heißt was?«
    »Haben sich deine Erwartungen erfüllt oder eher nicht? Du klingst nicht besonders zufrieden, wenn du von deiner Arbeit sprichst.«
    »Arbeit«, sagte sie lakonisch. »Du kommst auch nicht jeden Abend freudestrahlend nach Hause.«
    Woher willst du das wissen, dachte er, aber anstatt es zu sagen, nickte er nur und schaltete einen Gang nach oben.
    »Ich erinnere mich an deine Ankündigung, du würdest das erst mal ein Jahr auf Probe machen.«
    »Die Verträge von solchen Billigjobs gelten immer nur für ein Jahr.«
    »Maria, verdammt noch mal, antworte mir!«
    Seine Lautstärke ließ sie erschrocken auffahren.
    »Was? Ich antworte dir, Hartmut, sobald du eine präzise Frage stellst. Was soll die Quintessenz sein von ... was? Ich wusste, es würde schwierig werden in Berlin, und diese Einschätzung hat sich bestätigt. Meinst du das?« Mit einer Handbewegung bat sie ihn um Mäßigung und erinnerte an bewährte Umgangsformen: diskutieren gerne, streiten, wenn es sein muss, brüllen bitte nicht! Tatsächlich erschrak er selbst über seinen Tonfall; nicht über die Lautstärke, sondern die Plötzlichkeit des Ausbruchs. Er war froh über ihre Gegenwart und freute sich darauf, am Abend mit ihr zu feiern. Wann hatten sie zuletzt getanzt? Beinahe war es, als würde tatsächlich ein Kobold in ihm sitzen, der nicht länger flirrende Sphärenklänge produzierte, sondern die Kontrolle über seine Stimmbänder übernommen hatte.
    »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin noch nicht in den Ferien angekommen.«
    Philippa müsste inzwischen wach sein – er wusste nicht, warum ihm das jetzt einfiel. Bei seiner Abfahrt hatte sie noch im Bett gelegen, offenbar war sie gestern spät von der Hütte zurückgekommen. Beide hatten sie die letzte Nacht bei Ruth und Heiner geschlafen, die kommende wollte er mit Maria im Hotel verbringen. »Ich hatte gehofft, du könntest mir klipp und klar sagen, dass du deine Arbeit um ein weiteres Jahr verlängern wirst. Nicht dass ich nicht wüsste, dass du das vorhast. Einfach, um es offenzulegen. Aus Respekt.« Das falsche Wort, er wusste es schon, bevor Maria missbilligend den Kopf schüttelte.
    »Oh. Das ist jetzt ein bisschen ...«
    »Ein bisschen was?«
    »Als hätten wir darüber nie gesprochen. Empfindest du die Tatsache, dass ich arbeite, als Respektlosigkeit dir gegenüber?«
    Seine rechte Fußspitze senkte sich, und die Tachonadel reagierte. Er spürte die Vibration der Geschwindigkeit, beherrscht von seinem festen Griff ums Lenkrad. Der raue Straßenbelag verursachte ein dumpfes Summen. Es war ein merkwürdiger Moment: die Welt mit Marias Augen zu sehen, sich selbst vor allem – er bemühte sich, keine trotzige Miene zu machen –, ohne ihr

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