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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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beiden Reisetaschen, und sie folgten dem Strom der anderen Fahrgäste zum Ausgang. Überall Stimmengewirr, Lachen und aufgeregt plappernde Kinder. Draußen empfing sie die Hitze eines wolkenlosen Sommertages. Auf dem Parkplatz verstaute er ihre Sachen im Kofferraum und setzte sich hinters Steuer. Er schwitzte, zog das Jackett aus und lächelte seine Frau an. Wie immer, wenn sie einander längere Zeit nicht gesehen hatten, gab es so viel zu sagen, dass sie zunächst in Schweigen verfielen. Dreißig Minuten würde die Fahrt dauern, lange genug, um von der Summer School und dem gestrigen Polterabend zu erzählen, Grüße von Hans-Peter und Lori auszurichten und Maria mitzuteilen, dass er ein Upgrade ihrer Tickets nach Lissabon vorgenommen hatte. Ein spontaner Gedanke vorgestern Abend: Warum nicht mal Business Class fliegen nach all dem Stress?
    »Gute Reise gehabt?«, fragte er schließlich. Er wartete auf eine Lücke im Verkehr, der am Bahnhof vorbei aus der Stadt floss. Wie immer erinnerte Marburg ihn an früher. Der Bahnhof hatte sich kaum verändert.
    »Ziemlich voll im Zug. Eine ganze Schule auf Klassenfahrt.« Müde wirkte sie, als er ihr von der Seite einen Blick zuwarf. Ihr ICE war um halb neun abgefahren, und vermutlich hatte die gestrige Besprechung bis spät in die Nacht gedauert. Das Kleid stand ihr ausgezeichnet, figurbetont und vage asiatisch mit dem verspielten Blumenmuster.
    Statt die Stadtautobahn zu nehmen, entschied er sich für die Strecke durchs Zentrum. Um die Elisabethkirche herum waren die Bürgersteige voll. In den Cafés entlang der Ketzerbach genossen Studenten ein spätes Frühstück, und Hartmut spürte die Kopfschmerzen, die sich in seiner rechten Schläfe eingenistet hatten. Wahrscheinlich würde er erst nächste Woche in Rapa wieder gut schlafen. Den Ton im Ohr hatte er seit einigen Tagen nicht gehört und glaubte trotzdem, dass er noch da war. Ein Kobold, der seine Spielchen mit ihm trieb. Sich versteckte, wieder auftauchte, ihn warten ließ.
    »Ist dir heiß?«, fragte er an der nächsten Ampel. »Soll ich die Klimaanlage einschalten?«
    Maria schüttelte den Kopf. »Erzähl mir von gestern Abend.«
    »Interessante Veranstaltung.« Mit den Augen folgte er einer blinden Frau, die vor ihnen die Straße überquerte. Kurz hörte er das rhythmische Klicken ihres Stockes auf dem Asphalt. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft, die sich anlässlich der Hochzeit eines einheimischen Juniorprofessors für Physik mit einer koreanischen Theologiestudentin auf der lauschigen Waldhütte versammelt hatte. Dass Hartmut sich den Namen der Braut nicht merken konnte, obwohl er ihn alleine gestern ein Dutzend Mal gehört haben musste, ließ er unerwähnt. Irgendwas mit K. Sie und Florian hatten einander während eines Studienaufenthalts in Cambridge kennengelernt, lebten in Heidelberg und wollten in einer Woche nach Seoul fliegen, um dort noch einmal koreanisch zu heiraten. »Nach der letzten Woche war ich ein bisschen zu müde, um zu feiern«, schloss er. »Bin schon um halb zwölf ins Bett gegangen.«
    »Hat Ruth was gesagt?«, fragte Maria.
    »Gesagt?«
    »Dass ich nicht da war.«
    »Ich glaube, ich hab meine Schwester noch nie so glücklich gesehen. Bei ihrer eigenen Hochzeit war ich ja nicht in Deutschland. Sie sah richtig selig aus. Hat später sogar getanzt, auf Abba.« Kurz lachte er vor sich hin. »Glaubst du, wir erleben das noch, Philippa unter der Haube?«
    »Hartmut – hat sie was gesagt?«
    Er spürte Marias Blick von der Seite und wusste, dass er einem Loyalitätstest unterzogen wurde. Nicht dem ersten dieser Art. Mit einem Lächeln versuchte er, ihre Bedenken zu zerstreuen.
    »Dass es schade ist. Aber Hauptsache, du bist heute dabei. Ich hatte es ihr letzte Woche nicht gesagt, und gestern war sie zu aufgeregt, um sich lange damit aufzuhalten.«
    Hinter den Behringwerken passierten sie das Ortsschild, und die Straße führte bergan. Rot-weiße Schilder warnten vor Wildwechsel. Seine Auskunft entsprach annähernd der Wahrheit. Ruth hatte die Nachricht mit einem bedauernden Nicken quittiert und ihm dabei über den Arm gestrichen, als gelte das Bedauern ihm. Vielleicht interpretierte er die Geste auch falsch. Alles in allem hatte er einen schönen Abend verlebt und sich trotzdem abgekoppelt gefühlt von dem Treiben um ihn herum. Florians Kollegen und Freunde flirteten mit jungen Koreanerinnen und wurden beobachtet von den Mitgliedern einer einheimischen Burschenschaft, die alle das gleiche

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