Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
in der nächsten Sitzung darauf zurückkommen.«
    »Die nächste Sitzung findet im kommenden Semester statt. So viel Zeit bleibt uns definitiv nicht.« Er hörte seiner eigenen Stimme das steife Rückgrat an, mit dem er im Zimmer stand und dem Kollegen zu signalisieren versuchte, dass sein Widerstand zwecklos war. Nachdem Herwegh das Sitzungszimmer verlassen hatte, waren die verbleibenden Kollegen übereingekommen, dass ihnen leider keine Wahl blieb. Der Beschluss musste ins Protokoll gesetzt und Herweghs Zustimmung nachträglich eingeholt werden. Es ging um eine den gesamten Fachbereich betreffende und von anderen Instituten längst vollzogene Entscheidung. Sie konnten nicht ausscheren, weil ein Ordinarius querschoss, der nach dem kommenden Semester ohnehin emeritiert werden würde. »Diese Farce muss ein Ende haben«, hatte selbst Breugmann gesagt, der andere große Alteuropäer am Institut und Herweghs natürlicher Verbündeter.
    Weil sein Kollege keine Anstalten machte, sich hinzusetzen, tat Hartmut es ihm vor. »Sehen Sie«, sagte er konziliant und lächelte die Bücherwand an, »keiner von uns mag dieses Korsett der Module, aber der ganze Sinn der Reformen liegt offenbar in dem Bemühen, Vergleichbarkeit herzustellen, und das wiederum erfordert eine gewisse Vereinheitlichung der ...« Inhalte, wollte er sagen, aber ein Geräusch in seinem Rücken ließ ihn innehalten und den Kopf wenden. Was er sah, verschlug ihm für einen Moment die Sprache.
    Ohne ein Wort hatte Herwegh die Tür wieder geöffnet. Mit der rechten Hand hielt er den Knauf und machte mit der linken eine Bewegung, die Hartmut bedeutete, er möge sich aus dem Zimmer entfernen. Den Blick hielt er stier auf den Boden gerichtet. Drei Stunden später, als Hartmut seiner Frau den Vorfall schilderte, sagte er an der entsprechenden Stelle: Und da bin ich ausgerastet.
    »Sie schließen jetzt sofort diese Tür!« Seine Lautstärke überraschte ihn selbst. Die donnernde Mischung aus Drohung und Befehl klang nicht nach ihm. Als Herwegh sich nicht rührte,sprang Hartmut auf, streckte die Hand aus und warf die Tür mit voller Wucht ins Schloss. Der Knall zitterte nach im alten Gemäuer, und er glaubte zu sehen, wie in den angrenzenden Büros die Mitarbeiter erschrocken auffuhren. Mit derselben Hand zeigte Hartmut auf die beiden Sitzmöbel.
    »Dann setzen Sie sich da hin und hören mir zu!«
    Während der nächsten drei Minuten machte er Herwegh zur Schnecke, wie er es mit Studenten nie getan hatte. Geschweige denn mit Kollegen. Ein für alle Mal verbat er sich derartige Unverschämtheiten, nannte Herweghs Verhalten eine Zumutung, forderte ihn ultimativ zur Entschuldigung auf und verließ das Büro mit einem Gefühl, für das er auch am Abend nicht die richtigen Worte fand.
    »Zu sagen, dass es mir leidtut, wäre genauso richtig, wie zu behaupten, dass ich es genossen habe.« So viel war er bereit zuzugeben nach dem zweiten Glas Wein. Er hielt den Hörer am rechten Ohr und horchte angestrengt, aber im linken konnte er keinen Ton vernehmen. Außer Mitleid mit dem Kollegen empfand er Stolz auf sich selbst. Es mochte kindisch klingen, aber er hatte das Duell gewonnen. Mann gegen Mann, und er war als Sieger vom Platz gegangen.
    »Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Maria.
    »Erst mal sind Semesterferien. Im schlimmsten Fall bleiben wir Feinde, aber nächstes Frühjahr wird er sowieso emeritiert. Außerdem ist Herwegh nicht intrigant oder nachtragend, sondern nur ein komischer Typ.«
    »Okay.« Maria schien nicht abgeneigt, das Thema fallenzulassen. Dass die Interna seiner Arbeit bei ihr auf geringes Interesse stießen, war seiner Frau schwer zu verdenken. Er hatte selbst keine Ahnung, welches Projekt er als Nächstes beginnen sollte. Das jüngste Buch befand sich im Druck, und sein Gefühl sagte ihm, dass die Zunft es nicht gut aufnehmen würde. Zu unpräzise und nicht technisch genug für Kollegen, die lieber in die delikaten Verästelungen der Irrelevanz flüchteten, statt Probleme aus der Mitte des Lebens anzugehen.
    »Was Neues in Berlin?«, fragte er und lief im Wohnzimmer auf und ab. Das Bild von Herwegh ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie ein reuiger Schüler hatte er vor ihm gesessen und kein Wort über die zusammengepressten Lippen gebracht. Maria erzählte, dass ein Schauspieler das Ensemble verlassen wollte, den Merlinger für die kommende Spielzeit fest eingeplant hatte. Worauf der Chef wie auf alle unvorhergesehenen Veränderungen mit Wut und Panik

Weitere Kostenlose Bücher