Fliehkräfte (German Edition)
von Nähe und Distanz. Ihr konzentrierter Blick registriert, was ihm auch schon aufgefallen ist: die Rötungen unter den Augen und entlang der Nasenflügel. Den letzten Gesundheitscheck hat er ausfallen lassen, vorgeblich aus Zeitmangel.
»Sei ehrlich«, sagt sie. »Trinkst du?«
»Mehr als früher jedenfalls.«
»Job oder Familie?«
»Beides.«
»Aber du bist noch verheiratet?«
»Weniger als früher. Eigentlich nur am Wochenende, aber ja, natürlich. Ich bin noch verheiratet.«
Sie nickt und fährt fort mit ihrer Musterung. So dicht vor seinem Gesicht, dass er schielen müsste, um ihrem Blick zu folgen. Es gibt etwas, das Maria und Sandrine gemeinsam haben und wofür ihm kein passendes Wort einfällt. Die Formulierung ›weniger als früher‹ wurde registriert und für zu leicht befunden. Wer dergleichen sagt, hat entweder den Ernst der Lage nicht erkannt, oder die Lage ist nicht ernst, und er führt etwas anderes im Schilde. Begegnet sind sich beide Frauen lediglich in seiner Phantasie und sind dabei zwar respektvoll, aber ohne echte Sympathie miteinander umgegangen.
»Und hier bist du«, sagt sie leise.
»Es tut gut, dich zu sehen.«
»Hast du schon gesagt.« Ein Lächeln will über ihr Gesicht ziehen, und nach kurzem Zögern lässt sie es geschehen. »Ich hab lange überlegt, ob ich überhaupt antworten soll auf deine merkwürdige Mail. Du wirst es nicht gerne hören, aber ich war zuerst verärgert. Nicht dass die paar Jahre eine Rolle spielen, aber so zu tun, als wären sie nicht gewesen?«
»Verlangst du nach einer Erklärung?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Gehen wir rüber und machen den Wein auf. Oder soll ich Kräutertee kochen, um deine Leber zu schonen?«
»Sei nicht kindisch«, erwidert er so schroff wie möglich.
Durch die halb offene Tür wirft er einen Blick in ihr Schlafzimmer, bevor er den größten Raum des Apartments betritt, den als Wohnzimmer zu bezeichnen irreführend wäre. Zwar gibt es ein Zweiersofa und einen alten Korbsessel, aber der kniehohe Tisch dient vorrangig als Ablage. Lückenlos bedeckt von Büchern, Zeitschriften und losen Blättern, von alten Fotos und aufgerissenen Briefumschlägen. Sandrines Computer steht auf einem Sekretär zwischen schmalen hohen Gaubenfenstern. Verschleiert von einer feinen Staubschicht glotzt Hartmut das konvexe Auge eines Bildschirms entgegen, den Philippa ›antik‹ nennen würde.
»Kann ich dir helfen?«, ruft er, als in der Küche ein Weinkorken ploppt.
»Schaff Platz für ein Tablett.«
»Ich will deine Sachen nicht durcheinanderbringen. Ich weiß, dass hinter dem Chaos eine versteckte Ordnung waltet.«
»Schön wär’s.« Mit vollen Händen kommt sie zur Tür herein. In den weiten Kleidern hat sie etwas Feenhaftes, das ihm weniger gut gefällt als früher ihr Hippie-Look. »Das war eine Schutzbehauptung, die ich inzwischen aufgeben musste. Versuch einfach, eine ebene Unterlage zu schaffen.«
»Okay.« Er macht sich an die Arbeit, und Sandrine wartet im Stehen darauf, dass seine Umschichtung zum gewünschten Ergebnis führt. Ein Foto zeigt zwei missmutig dreinblickende junge Leute, in denen er erst beim zweiten Hinsehen Sandrine und sich selbst erkennt. Nebeneinander gegen ein Geländer gelehnt vor unscharf grünem Hintergrund. Auch Briefe in seiner Handschrift liegen auf dem Tisch. Mit den Augen fährt Hartmut über die Hausarbeit eines Studenten namens Mathieu Dubost und den prätentiösen Briefkopf einer baltischen Gesellschaft für Anthropologie. Sieht aus wie ein altes Adelswappen.
Schließlich kann Sandrine sich das Lachen nicht verkneifen.
»Hartmut, einfach irgendwie stapeln.«
»Es soll stabil sein, oder?«
»Nicht im Sinne von: für die Ewigkeit. Erinnerst du dich, wir suchen nach einem Platz für das Tablett.«
»Lenk mich nicht ab. Ich arbeite.«
»Du bist genau wie früher!« Sie ruft das mit einer überdrehten Begeisterung, die ihn überrascht innehalten lässt. »Brauchst du Werkzeug? Ich hab einen Hammer.«
»Eile mit Weile«, erwidert er auf Deutsch. Vielleicht erinnert sie sich an diese Maxime aus der aphoristischen Hausapotheke seines Vaters.
Vor dem Tisch kniend, beginnt er damit, einzelne DIN-A4-Blätter auf zwei Stapel zu verteilen, bis Sandrine das Tablett auf den Boden stellt, sich neben ihn setzt und mit beiden Händen sein Gesicht umfasst. Was sich am wenigsten verändert hat, sind ihre Augen. Blaugrau und in diesem Moment an den Rändern feucht schimmernd.
»Ich weiß nicht mal genau, wie viele
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