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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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daran gedacht, sie zu besuchen, jetzt bleibt er mit dem Sakko über dem Arm in der Küchentür stehen. Das Innere der Wohnung hat sich kaum verändert, ebenso wenig wie der Duft nach Kaffee und altem Papier, nur die Höhe überrascht ihn: die schwebende Draufsicht auf Häuser, Parks und Boulevards.
    »Wo wohnst du?« Sandrine hat eine Vase gefunden, stellt die Blumen hinein und sucht mit den Augen nach einem freien Platz.
    »Rue du Helder, in der Nähe der Oper. Hotel Haussmann.«
    »Kenn ich nicht. Warum dort?«
    »Ich hab einfach das nächstbeste Hotel gebucht. Ich war hier noch nie in einem.«
    »Wenn du dich früher gemeldet hättest ... Warum musste es plötzlich so schnell gehen, bist du auf der Flucht? Jahrelang Funkstille und dann: Hallo, morgen bin ich da. Was, wenn ich in den Ferien gewesen wäre?«
    Mit der Hand zeigt er auf den Kühlschrank.
    »Da ist Platz, oben drauf.«
    »Als wüsstest du nicht mehr, wie ich lebe. Hättest du nicht wenigstens einen kleineren Strauß kaufen können?«
    Kurz sehen sie einander an, amüsiert angesichts der Unhandlichkeit des Moments. Zwischen jetzt und der nächsten Gemeinsamkeit liegen die Jahre, in denen sie getan haben, was Sandrine beim letzten Mal ›the right thing‹ nannte. Sie wendet sich zur Spüle und dreht den Wasserhahn auf. Was seine Nervosität so rasch gedämpft hat, ist ein beinahe angenehmer Anflug von Enttäuschung. Den ganzen Tag über war es, als stünde ihm ein Abenteuer bevor, nun wandern seine Blumen auf den Kühlschrank, weil sonst nirgendwo Platz ist. Gut so, denkt er. Vielleicht hat er sich gestern ins Auto gesetzt, um desillusioniert zu werden. Noch einmal und anders.
    »Es ist nicht leicht, richtig?«, sagt Sandrine über die Schulter. »Das hier.«
    »Nur am Anfang nicht.«
    Sie muss sich strecken, um die volle Vase abzustellen, und Hartmut stellt fest, dass sie hager geworden ist. Die zurückfallenden Ärmel machen Unterarme sichtbar, die nach regelmäßiger Bewegung im Freien aussehen, aber der Gesamteindruck ist der eines geschwächten Körpers. Einen richtigen Hintern hat sie nie gehabt, nun weist etwas in ihrer Physis voraus auf die alte Dame, die sie in nicht allzu ferner Zukunft sein wird.
    »Hör auf, mich zu mustern«, sagt sie, ohne sich umzudrehen. »Ich war im Frühjahr krank und bin noch nicht wieder die Alte.«
    »Krank?«
    »Nichts, worüber wir reden müssten. Wenn du also weggelaufen bist – wovor?«
    »Das hab ich nicht gesagt. Wahrscheinlich bin ich eher auf der Suche. Musst du mich gleich in die Mangel nehmen? Ich bin gerade angekommen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Hallo.«
    »Auf der Suche wonach?«
    »... vielen Dingen. Der richtigen Entscheidung über meine Zukunft. Abstand von meinem Bonner Leben. Vielleicht nach mir selbst?«
    »Nach dir selbst, viel Glück. Du bist hoffentlich nicht gekommen, um mich mit Plattitüden zu langweilen. Abgesehen davon, dass ich nicht wüsste, warum du dich ausgerechnet in Paris suchen solltest. Du wurdest hier seit Ewigkeiten nicht gesehen.«
    »Du hast dich kaum verändert, wirklich«, sagt er. »Erinnerst du dich noch, was eine Kratzbürste ist?«
    »Weißt du noch, was mauvaise foi bedeutet?« Sandrine stemmt die Hände in die Hüften und neigt den Kopf zur Seite, bevor sie lachend abwinkt. Ihr Blick ruft einen Gedanken während der gestrigen Autofahrt zurück: dass er seit Monaten   – vielleicht seit zwei Jahren – im Zustand einer ständigen Übertreibung lebt. Gestern Mittag ist ihm das Wegfahren aus Bonn wie ein Akt der Befreiung erschienen. Rein nach Belgien, raus aus Belgien, lauter unmerkliche Übergänge und die langsamen Wechsel der Landschaft. Er hätte früher herkommen sollen, statt bloß mit dem Gedanken zu spielen und dadurch das Wiedersehen aufzuladen mit unrealistischen Erwartungen. Eine überflüssige Übertreibung auch das.
    »Mit wem sollte ich sonst reden?«, fragt er. Es ist ungewohnt und tut trotzdem gut, Englisch zu sprechen. Die Sprache ihrer früheren Vertrautheit.
    »Keine Ahnung, Schopenhauer. Reden worüber? Deine E-Mail klang, als würden wir einander jede Woche schreiben und sollten mal wieder für einen kleinen Plausch zusammenkommen. Hab ich was verpasst?«
    »Es war spät Montagnacht, und ich hatte einiges getrunken.«
    »Du siehst nicht gut aus, wenn ich das sagen darf.« Mit ernstem Gesicht macht sie einen Schritt auf ihn zu und fährt mit der Hand über seine Wange. Weniger eine zärtliche Geste als ein Test, ein vorsichtiges Austarieren

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