Fliehkräfte (German Edition)
geben.«
»Fangen Sie gleich damit an.« Das fragliche Buch lag griffbereit neben Simons Stuhl, und als Hartmut das stickige Büro verließ, hatten sich vier weitere dazugesellt. Außerdem stand er zum ersten Mal in seinem Leben in Lohn und Brot. Hatte einfach die ihm hingehaltene Hand ergriffen und geglaubt, Simon wolle ihm auf Wiedersehen sagen, aber stattdessen sagte der »Willkommen an Bord«, und Hartmut traute sich nicht zu erwidern, dass er erst mit seiner Freundin reden müsse. Im Aufzug fuhr er nach unten und trat auf den Ernst-Reuter-Platz. Ein Spätsommertag mit vereinzelten Wolken am Himmel. Auf dem Bürgersteig standen kleine Gruppen von Studenten. Büchertische vor der Buchhandlung Kiepert. Und jetzt? Einen Moment lang war er wie betäubt von der eigenen Ratlosigkeit.
»Wie sagt deine Mutter immer: Kannste machen nix.« Heiner steht vor ihm, deutet auf eine Rolle mit Dämmstoff und macht ein skeptisches Gesicht. »Manche Dinge kann man sich nicht aussuchen.«
»Bitte?«
»Tückisches Zeug und wahrscheinlich nicht gesund, aber bei unserem Dach ist Glaswolle die einzige Möglichkeit.«
»Okay. Verstehe.«
»Apropos Mutter: Mach dich auf Tränen gefasst. Deine Rückkehr ist der emotionale Höhepunkt des Jahres. Wenn nicht des Jahrzehnts.« Heiner klopft gegen die Holzvertäfelung der Decke; eine Geste, die keinen Zweck erfüllt und wahrscheinlich ein Ausdruck von Verbundenheit ist, von natürlichem Stolz auf das Werk der eigenen Hände.
»Verstehe«, wiederholt Hartmut und sieht sich um. Im künftigen Arbeitszimmer fehlen noch die Vorderfenster und die Tür zum Balkon. Sein Erstaunen nimmt bereits ab. Kommt nicht an gegen die Normalität, die ihn umgibt. Erneut erreicht der Lärm aus dem Freibad sein Ohr. Zurückzukommen war unausweichlich, nun muss er das Beste daraus machen. Geduld haben und die nächste Arbeit schreiben. Es klingt banal, aber das Lebengeht wirklich weiter. Unten im Garten stimmen die Zwillinge ein Geheul an, das eher an Indianer als an Räuber denken lässt. Kurz darauf hört Hartmut, wie auf der Straße ein Auto hält, eine Tür geöffnet wird und die vertraute Stimme seines Vaters sagt: »Hässde e bissche wäirer weg vom Boddstäh gehahn, Ruttche, da käm äich besser raus.«
4 Wie ein weiß gekacheltes Schneckenhaus windet sich die Treppe nach oben. Von bunten Werbetafeln strahlen glückliche Menschen, und aus dem U-Bahn-Schacht steigt warme Luft auf. Um nicht zu schwitzen, geht Hartmut langsam und lässt eine Gruppe Jugendlicher passieren, deren Schritte ihm im nächsten Moment als hohles Echo entgegenfallen. Dass es in Lamarck-Caulaincourt auch einen Aufzug gibt, sieht er erst, als er nach den letzten Stufen die Station verlässt.
Der Ausgang führt aus dem Berg hinaus wie ein waagerechter Stollen. Verwahrloste Gestalten sitzen auf den Treppen, trinken Dosenbier und Wein und unterhalten sich in lautem Argot. Montmartre Fleurs gibt es immer noch, ebenso das kleine Bistro mit der windgeschützten Terrasse. Sanft steigt die Rue Lamarck an zwischen prächtigen Fassaden und kommt ihm zwar bekannt, aber nicht mehr vertraut vor nach so vielen Jahren. Gegenüber der Métrostation eröffnet sich ein Ausblick auf das Häusermeer von Paris. Den ganzen Tag über hat der Himmel graublau und kühl über der Stadt gehangen, jetzt lockert die Bewölkung auf und verspricht einen heiteren Mittwochabend. Hartmut betritt den Blumenladen, gibt dem Verkäufer zwanzig Euro und fährt mit der Hand über die verschiedenen Gebinde in den Vasen. Danach nickt er lediglich und sagt ›Oui‹, wenn der Mann mit fragender Miene nach dem nächsten Stiel greift. Dann drei Mal ›Non‹, als ihm verschiedene Folien angebotenwerden, um den Strauß einzuschlagen. Es sind nur ein paar Meter die Straße hinauf. Schlafmangel schärft seine Sinne und verleiht auch flüchtigen Eindrücken einen Anschein von Bedeutung. So war es schon gestern auf der Autobahn. Beinahe droht die Vorfreude dahinter zu verschwinden.
Er überlegt, im Bistro gegenüber ein Glas Wein zu trinken, und entscheidet sich dagegen. Will weder nach Alkohol riechen noch nach Schweiß, also bezwingt er seine Ungeduld, folgt der Rue Lamarck über die nächste Kreuzung und erkennt schon von weitem den Eingang des Hauses. Dahinter das Restaurant, wo sie beim letzten Mal zusammen gegessen haben, im Herbst 99. Alles erscheint unverändert und doch anders. Vor dem breiten Haustor bleibt Hartmut stehen und sucht in seinen Taschen nach dem Zettel
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