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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Mississippi und Kentucky mit einschloss. Das hatte sie in aller Deutlichkeit verneint und ihre Entrüstung auf Hartmut gerichtet, weil der Beckers Entgegnung zum Lachen fand: How about Louisiana, then? Am Ende führte der fruchtlose Streit dazu, dass sie von Minneapolis an die Ostküste zog, wo ein College seinem liberalen Ruf gerecht wurde und Sandrine machen durfte, was sie wollte.
    »Das Leben ist seltsam«, sagt sie und scheint einem ähnlichen Gedanken zu folgen wie er. »Ich wollte dem alten Knacker nicht recht geben. Koste es, was es wolle. Am Ende hat es mich über drei Jahre gekostet.«
    »Und mich.«
    »Stimmt. Sonst wäre ich heute von dir geschieden statt von George.« Sie klatscht in die Hände und freut sich über die böse Bemerkung. Einige der Briefe auf dem Tisch beinhalten flehende Petitionen, in denen er vergebens seine Liebe, ihre Vernunft und allerlei andere Dinge beschwört, die Sandrine ihrem angeborenen Stolz unterordnete. Ehrgeiz im eigentlichen Sinn hat sie nie besessen. Nie des Geldes wegen gearbeitet; in ihrer Familie war Geld immer vorhanden, zusammen mit einem Ferienhaus im Luberon, dem Kindermädchen Bernadette und den neurotischen Eltern, die nur am Tisch miteinander sprachen.
    Sie rückt ein Stück näher an ihn heran und legt den Kopf an seine Schulter.
    »Hast du geglaubt, dass es so sein würde? Heute.«
    »Allenfalls hatte ich gehofft, du würdest weniger auf mir rumhacken.«
    »Ich hatte Angst, dass es sich überflüssig anfühlen könnte.Ein Wiedersehen nach so vielen Jahren. All der emotionale Aufwand, nur um gemeinsam alte Erinnerungen aufzuwärmen. Wozu?«
    »Du kannst zwar gemein sein, aber berechnend bist du nicht. Das hast du bestimmt nicht gedacht.«
    »Was macht dich so sicher?«
    »Nichts. Ich glaube es nicht.«
    »Trotzdem stimmt es. Ich war nahe dran, dir abzusagen.«
    Als Hartmut ihr einen zweifelnden Blick zuwirft, will sie von ihm wegrücken, aber er legt einen Arm um ihre Schulter und hält sie fest. Sandrine faltet die Hände im Schoß, bevor sie weiterspricht.
    »Ich wollte nicht davon anfangen, aber wenn du unbedingt darauf bestehst. Hör mir zu, und mach kein betroffenes Gesicht. Okay? Ich meine es ernst.«
    »Ich höre dir zu.«
    »Es besteht kein Grund zur Betroffenheit, ich bin wieder völlig gesund, wie vorher. Ich kann sogar klettern, auch wenn die Ärzte das für riskant halten.« Sie scheint sich in Ruhe die nächsten Sätze zurechtzulegen, und Hartmut schickt einen Blick durch den Raum. Neben seinen Füßen liegt ein mit Lesezeichen gespicktes Buch, dessen Cover zwei Männer vor der offenen Fahrertür eines Autos zeigt. Ein Weißer im dunklen Anzug und ein Schwarzer, der die weiße Arbeitsjacke eines Kochs oder Friseurs trägt. Vielleicht ist er der Chauffeur. Beide schauen mit ernsten Mienen am Fotografen vorbei, als wären sie durch jenes namenlose Verhängnis verbunden, von dem Faulkner geschrieben hat. There Goes My Everything – White Southerners in the Age of Civil Rights heißt der Titel. Offenbar interessiert Sandrine sich immer noch für ihr altes Thema.
    »Letzten Winter«, sagt sie und zeigt auf das Buch, »hatte ich einen Lehrauftrag in Nanterre. Ein Mal in der Woche ein Seminar, immer Donnerstagnachmittag. Schwarz und Weiß in Amerika. Ein Thema, das unter meinen Bekannten ein derart sorgsam verstecktes Desinteresse hervorruft, dass ich alleinedeswegen immer wieder davon anfangen muss. Es gibt nichts Demaskierenderes als die Maske selbst. Übrigens ein Satz vom alten Carson Becker.«
    Hartmut lehnt sich gegen die Sitzfläche des Sofas und ist froh, dass Sandrine die Umarmung nicht löst, um zu erzählen.
    »Letzten Winter also«, sagt er.
    »Wir saßen im Seminar und haben über einen Text gesprochen. Das heißt, ich hab eine Passage vorgelesen, auf Englisch, und sie grob übersetzt. Es ging um McClung versus Katzenbach, wenn du dich erinnerst. Um präzise zu sein, hatte ich mir mehr Notizen gemacht als sonst. An einem Punkt hab ich aufgeschaut in die Reihe der Gesichter. Wollte sehen, ob alle wach sind. Zwei Fenster standen offen, von draußen kam Baulärm herein. Alles ganz normal, ein sonniger Tag und das mittlere Aufmerksamkeitsniveau, an das ich mich inzwischen gewöhnt habe. Ich dachte: So, dann weiter im Text. Die Argumentation vor dem Berufungsgericht. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es beschreiben soll. Von einem Moment auf den anderen war alles weg. Kein Wort mehr, kein Satz, keine Sprache.

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