Fliehkräfte (German Edition)
schüttelt den Kopf, als hätte er ihr widersprochen.
»Erst waren wir naiv, dann entweder verbittert oder selbstgerecht. Jetzt sind wir gleichgültig. Seit ich Virginie kenne, langweilen mich die Abendessen mit Freunden immer mehr. Dieselben Themen, derselbe Ton, abgeklärt und leidenschaftslos. Wir wissen alles besser, aber nur besser als früher, und das heißt gar nichts.« Obwohl sie erst ein halbes Glas getrunken hat, lauert in ihrem Blick die Bereitschaft zu einer aggressiven Litanei, von der Hartmut sie gerne abhalten würde. Zu gut erinnert er sich an ihre Tiraden im Auto, über amerikanischen Rassismus, Bürgerrechte und die Frage, welche Formen von Religiosität mit dem Ausdruck Zivilisation vereinbar sind. Abgeklärt und leidenschaftslos war Sandrine Baubion nie, das ist eine Qualität ihres Charakters, die zu würdigen nicht immer leichtfällt.
»Nichts gegen deine Cousine, aber da ich beruflich mit der jungen Generation zu tun habe ...«
»Ich weiß. In Wirklichkeit sind sie angepasst, oberflächlich und karriereorientiert. Ich werde mich nicht darüber beklagen. Wir haben Mao Zedong verehrt.«
»Ich nicht.«
»Du natürlich nicht. Du bist zu Kundgebungen von Hubert Humphrey gefahren.«
Ein Mal hat er das getan, im Herbst 76, als Humphrey für den Senat kandidierte. Kürzlich hat er darüber nachgedacht und festgestellt: Er besitzt eine Schwäche für uncharismatische Politiker. Obwohl er zeitlebens SPD gewählt hat, kann er mit Angela Merkel gut leben. Charisma verführt den Besitzer zur Unaufrichtigkeit und lässt alle anderen darüber hinwegsehen. Eine Einladung zum Missbrauch im beiderseitigen Einvernehmen.
»Wenn ich gewusst hätte, wie lange du dich darüber mokieren würdest«, sagt er, »wäre ich zu Hause geblieben.«
»Du hast kein Haschisch geraucht und nicht getrunken. Warst kein Marxist und gegen jede Form politischer Gewalt. Die Liste deiner Jugendsünden würde einen Mormonen zum Lächeln bringen.«
»Die jungen Leute von heute nennst du gesund. Aber mich?«
»Dein größtes Laster waren English Muffins. Ist das immer noch so?«
»Ich beginne zu verstehen, warum ich so lange nicht hier war. Warum bist du jetzt gemein zu mir? Was hab ich getan?«
»Du warst ein komischer Vogel mit deinen hässlichen Hemden und dem deutschen Akzent, und ich wollte nichts an dir verändern. Gar nichts. Es ist mir erst später aufgegangen, wie selten das ist.« Sie sieht ihn an und legt den aggressiven Tonfall ebenso schnell ab, wie sie ihn angenommen hatte. »Genau genommen war es einmalig, also beschwer dich nicht. Du schreibst eine betrunkene Mail, und ich fange an, in alten Briefen zu lesen. Ich hab mir vorgenommen, ein bisschen gemein zu sein. Es geschieht mit Absicht.«
»Okay.«
Ein paar Mal nickt sie still vor sich hin. Leert ihr Glas und stellt es auf den Tisch. Das Foto der Cousine wandert zurück zu den anderen Bildern.
»Letzten Monat ist Carson Becker gestorben«, sagt sie.
»Letzten Monat erst?«
»Genau was ich gedacht habe. Ich bin zufällig auf die Nachricht gestoßen. Wollte einen alten Text von ihm zitieren – um ihn zu kritisieren, natürlich –, und als ich im Internet nachgeschaut habe, fiel mir der Nachruf ins Auge. Sehr kurz, eher eine Notiz. Er muss fast hundert Jahre alt geworden sein. Kannst du dir einen überzeugenderen Beweis für seine Selbstgerechtigkeit denken? Hundert Jahre!«
»Hast du ihn trotzdem zitiert?«
»Ja. Aber zustimmend.« Zum ersten Mal seit seiner Ankunft lacht sie so fröhlich wie früher. Jahrelang haben Professor Becker und sie im Clinch gelegen, weil Sandrine sich in den Kopf gesetzt hatte, in ihrer Doktorarbeit Lynchjustiz als eine primitive Ritualform zu untersuchen. Damals ein gewagter Ansatz, von dem ihr Betreuer nichts wissen wollte. Ein stoischer weißhaariger Mann aus Montana, der auf die Siebzig zuging und ungerührt zur Kenntnis nahm, dass seine Studentin ihn für borniert hielt. Er fand das Thema ungeeignet und witterte in Sandrines Haltung den typischen französischen Kulturchauvinismus. MitBeckers Namen kehrt die Erinnerung an einen Nachmittag kurz vor Hartmuts Abflug zurück. Sandrine berichtete empört, ihr Professor habe angeregt, sie solle lieber eine theoretische Arbeit schreiben, über die methodischen Probleme einer Ethnologie des Eigenen. Ihre Empörung wurzelte in Beckers stillschweigender Unterstellung, sie, Sandrine Baubion, könnte über einen Begriff des Eigenen verfügen, der die blutrünstigen Normalbürger von
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