Fliehkräfte (German Edition)
mit dem Türcode. Am Vormittag hat er gleich nach dem Frühstück das Hotel verlassen. Wollte sich im Freien bewegen, aber nach wenigen hundert Metern stand er vor dem steinernen Gebirge des Opernhauses und wusste nicht weiter. Eine vollbusige Frau joggte den Bürgersteig entlang, ohne sich an gaffenden Passanten zu stören. Paris ist eine schöne Erinnerung, an die er nicht gerne rührt. Der ungeduldige Wind trieb Wolken über die Dächer. Einkäufer strömten ins Kaufhaus Lafayette. Nach einer halben Stunde ist er zurück ins Hotel gegangen und hat sich mit Charles Lins ungelenkem Deutsch die Zeit vertrieben. Als der Text vor seinen Augen zu tanzen begann, hat er ihn zur Seite gelegt und sich auf den Weg zum Montmartre gemacht.
In der Gegensprechanlage ertönt ein Knacken. »Too early, of course«, sagt Sandrines amüsierte Stimme.
Mit der Schulter stößt er die Tür auf. Das Deckenlicht spiegelt sich in einer Reihe von Briefkästen und dem frisch gebohnerten Parkett. An der Tür der Conciergewohnung klebt eine handgeschriebene Notiz. Wie damals meidet Hartmut den hundert Jahre alten Fahrstuhl, steigt fünf Stockwerke nach oben und hört vor dem letzten Treppenabschnitt, wie über ihm eine Tür geöffnet wird. Den ersten Moment hat er sich oft und inverschiedenen Versionen vorgestellt, aber als er da ist, geht es vor allem schnell. Jahre werden zu Sekunden, die Zwischenzeit verpufft. Weil Licht aus der Wohnung in den dunkleren Flur fällt, erkennt Hartmut zunächst nur ihre Silhouette. Ein wenig kleiner kommt sie ihm vor, aber schmale Schultern hat sie immer gehabt, kein Parfüm benutzt und ihm bei der Umarmung eine Hand in den Nacken gelegt. Ein kühler Luftzug weht ins Treppenhaus, dann halten sie einander an den Oberarmen, der Blumenstrauß verknickt, und Hartmut weiß nicht, was er sagen soll. Hat jemandes Lächeln eine eigene Art, älter zu werden?
Sandrine zuckt die Schultern unter seiner wortlosen Musterung.
»Was hast du erwartet? Es ist ein paar Jahre her.« Ihr Englisch klingt unrhythmisch, und der französische Akzent ist stärker als in seiner Erinnerung. In ihren weiten Leinenkleidern würde sie als Dozentin für Kräutermedizin oder tantrische Meditationstechniken durchgehen, aber der gestrigen Mail zufolge arbeitet sie weiterhin freiberuflich und nimmt Lehraufträge in Ethnologie an. Der Name der Uni ist ihm entfallen, eine von denen mit den Nummern.
Es ist merkwürdig, berührt zu sein und es kaum spüren zu können. Als wäre er noch gar nicht da, sondern wartete gespannt auf sein Eintreffen.
»Du sagst nichts?«, fragt sie. Ihre langen Haare trägt sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, in dem es hier und da silbrig schimmert.
»Schön, dich zu sehen.«
Noch einmal umarmen sie einander, dann tritt Sandrine zur Seite und lässt ihn in die Wohnung. Ein schmaler heller Flur, in dem ihre Schuhe aufgereiht auf dem Boden stehen. Den Strauß nimmt sie mit einem befremdeten Kopfschütteln entgegen. Sind Blumen nach so vielen Jahren, in denen sie einander lediglich E-Mails geschrieben haben, zu wenig? Zu konventionell?
Er zieht sein Sakko aus, und Sandrine sagt: »Demnach bist du nicht meinetwegen gekommen.«
»Weswegen sonst?«
»Fragst du mich.« Sie schnuppert an einer der Blüten und verzieht das Gesicht. »Ich weiß gar nicht, ob ich eine passende Vase habe. Seit wann bist du in der Stadt?«
»Seit gestern Abend, wie ich geschrieben habe.«
Die Küche ist klein wie eine Vorratskammer und ebenso überfüllt. Vor der Heizung stapeln sich Bücher. Bunte CD-Hüllen mischen sich darunter, Zeitschriften und Aktenordner. In den engen Räumen dieser Mansardenwohnung hat Sandrines Vater früher seine Geliebten getroffen. Die holzvertäfelten Schrägen besitzen Charme, und der Blick aus den hohen Fenstern geht über Dachfirste, Brandmauern und schlanke Schornsteine hinein in die offene Weite über der Stadt.
»Was trinkst du um diese Zeit?«, fragt Sandrine, während sie ein paar Schranktüren öffnet und wieder schließt. »Kaffee oder Alkohol?«
»Wenn du Wein hast.«
»Rate«, sagt sie nur.
Von einem Cover von Paris Match blickt ihm das triumphierende Gesicht des Präsidenten entgegen. Sandrine hat nie viel von der funktionalen Trennung von Zimmern gehalten oder unterlässt es jedenfalls, ihre Arbeit an einen bestimmten Ort zu bannen. Gelbe Zettel mit Literaturhinweisen kleben auf der Anrichte und dem Türrahmen. Einen Moment lang gibt es nichts zu sagen. Seit Jahren hat er immer mal wieder
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