Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
dass man es beinahe nicht hört.
    Als er die Augen wieder öffnet, hat die Familie sich eingerichtet unter einem roten Sonnenschirm. Die Eltern werden träge, die Kinder reiten auf Schwimmtieren davon Richtung Wasser. Vater und Mutter reden miteinander; bestimmt sagt sie einen Satz, der mit ›Ich hab letzte Nacht‹ beginnt, denn sofort nickt er einsichtig und setzt sich auf, legt die Zeitung beiseite für später. Genau so war es, denkt Hartmut. Jahr für Jahr. Sommer für Sommer. Am Abend sind sie zum Strand zurückgekehrt, weil Philippa Muscheln sammeln wollte. Maria und er schlenderten hinterdrein, Arm in Arm und in der freien Hand ein Eimerchen. Am Ende jedes Urlaubs mussten sie ihrer Tochter erklären, warum sie von tausend Muscheln nur zwei Hände voll mit ins Flugzeug nehmen konnte.
    Am liebsten würde er zu den Eltern hingehen und sagen: Besser wird’s nicht mehr. Genießt jede Minute.
    Die Sonne steigt höher, und der feinkörnige Sand beginnt Hitze zu speichern. Bernhard hat angekündigt, ihn um ein Uhr im Hotel abzuholen. Der gemeinsame Abend gestern endete, als der Betrieb in der Bar zunahm und der Chef drinnen aushelfen musste. Eine Weile saß Hartmut noch an der Theke, versuchte zu ignorieren, dass er der älteste Gast war, und zu ergründen, warum Bernhards zurückhaltende Reaktion auf seine Berlin-Pläne ihn stärker ernüchtert hatte, als er im ersten Moment glauben wollte. Gegen Mitternacht übernahm im hinteren Teil der Bar ein Diskjockey das Kommando. Mechanisch stupide Rhythmen dröhnten durch den Raum. Als an der Theke das nächste Sonderangebot ausgerufen wurde – fünfzehn Minuten lang kostete jeder Tequila-Shot einen Euro – beschloss Hartmut aufzubrechen. Auf der Promenade herrschte derselbe Betrieb wie um sieben Uhr, oben auf der Düne saßen Jugendliche im Kreis und sangen. Über den Strand huschten Schatten, meistens paarweise. Alleine stand Hartmut dort, wo jetzt der junge Vater steht und auf einmal älter aussieht mit seinen nach vorne gezogenen Schultern und dem leichten Bauchansatz. Alles vergeht wie im Zeitraffer. Ein Dutzend Kinder toben in der Brandung, und auf dem Hochsitz der Strandaufsicht wachen zwei sonnenbebrillte Rettungsschwimmer über das Geschehen. Vom bleichen Mond gerufen, arbeitet das Meer sich den Strand hinauf. Über die Düne kommen neue Badegäste, Familien, Paare, Einzelgänger. Sein knurrender Magen erinnert Hartmut daran, dass er noch nicht gefrühstückt hat. Im Aufstehen streift er sich das Hemd über den Kopf und geht zurück zum Hotel.
    Gegen halb zwei sitzen sie einander am gedeckten Tisch gegenüber. Zwischen Tellern mit Gänseleberpastete und Salat liegt frisches Baguette in einem Bastkörbchen. Ein rechteckiger weißer Sonnenschirm überspannt die gesamte Terrasse des La Mouette . Bernhards bevorzugtes Restaurant, ein verglaster Bungalow in Sichtweite des Meeres, wenige Kilometer außerhalb von Mimizan. Bequeme Rattanmöbel und leise Musikverleihen dem Ort das Flair einer karibischen Lounge. Neben den Tischen aufgestellte Ventilatoren lindern die Mittagshitze. Hartmut wirft einen Blick in die Speisekarte und versucht, den langsamen Rhythmus des Tages zu genießen. Das, was Ferien ausmacht. Gleichzeitig drängt es ihn zu erzählen; seit gestern Abend schon, so als müsste er weiter ausholen, um Bernhard von der Ernsthaftigkeit seiner Überlegungen zu überzeugen.
    »Als Siebzehnjähriger«, sagt er, trinkt einen Schluck Wasser und mag das Klirren der Eiswürfel in seinem hohen Glas, »als Siebzehnjähriger war ich oft im Marburger Studentenkino und jedes Mal stolz, wenn niemand nach meinem Ausweis gefragt hat. Ich bin nicht nur der Filme wegen hingegangen, sondern wollte schauen, wie die Studenten sich anziehen. Wie sie gehen und reden. Damals wusste ich noch nicht einmal, ob ich Abitur machen würde. Mein Vater hatte mir einen Ausbildungsplatz am Landratsamt verschafft. Über seine Kontakte im Posaunenchor. Das war mein vorgezeichneter Weg, nicht die Uni.« Er blickt auf und sieht seinem Gegenüber ins Gesicht. Wie immer in Frankreich wünscht er, sein Französisch wäre besser. »Was heißt huîtres?«
    »Austern.« Bernhards Hemdkragen steht offen, in der Spitze des V zeigen sich ein paar Haare. Sein Tag hat erst vor einer Stunde begonnen. Auf dieser Terrasse, wo die Kellner ihn mit Namen anreden, wirkt er wie ein Lebemann in den unverdienten und zu langen Ferien. Nur die wachen blauen Augen stehen dem Eindruck entgegen.
    »Was mich damals

Weitere Kostenlose Bücher