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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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getrieben hat«, fährt Hartmut fort, »würde ich heute den typischen Bildungshunger des Autodidakten nennen. Ich hab Stiller gelesen und jeden zweiten Satz unterstrichen. Dann kamen die Bergman-Filme. Das Schweigen war wie eine Offenbarung, nicht nur wegen der Liebesszenen. Später Jazz, alles Neuland für mich. Wenn ich meine Tochter anschaue, denke ich, sie wächst auf in einer Welt, in der alles schon da ist außer dem nächsten noch besseren Handy. Für mich war’s eineEntdeckungsreise. Bloß für ideologische Fragen hatte ich keine Antenne, das war schlecht. Siebzig oder einundsiebzig, als ich gerade nach Berlin gewechselt war, musste ich zusammen mit einem Kommilitonen ein Referat halten. Worum es ging, hab ich vergessen, aber es hatte mit Marx zu tun. Wie alles zu der Zeit. Jeder hat seinen Text vorbereitet, danach haben wir uns zusammengesetzt, und ich wusste sofort, er ist mir Lichtjahre voraus. Im Seminar hab ich schwitzend meinen Teil vorgetragen, dann er seinen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit: Hier irrt Marx, hier auch. Hier noch mal. Sobald er fertig war, brach der Sturm los, ich hab mich verkrochen, und der Kerl hat gekämpft wie ein Löwe. Es war beeindruckend. Er hat es mit dem ganzen Seminar aufgenommen.« Der überfüllte Hörsaal im Henry-Ford-Bau steht ihm vor Augen, im Sommer und bei offenen Fenstern, so dass die Flugzeuge nach Tempelhof mitten durch den Raum zu fliegen schienen. Hans-Peter mit aufgerollten Hemdsärmeln vorne am Pult, strenger Seitenscheitel und Hornbrille, uncool und blitzgescheit alle Angriffe parierend, ohne die Fassung zu verlieren.
    Bernhard sieht aus, als hätte er weder großen Hunger noch besonderes Interesse an Hartmuts Erzählung. »Wovon willst du mich überzeugen?«, fragt er.
    »Von nichts. Ich glaube, ich hätte Lust auf Austern.« In Gedanken blättert Hartmut weiter zum nächsten Bild: Hans-Peter in seinem penibel aufgeräumten Hinterhofzimmer am Mehringdamm, ein Glas mit warmem Sekt in der Hand, an dem Tag, als die Zusage für sein Stipendium eingetroffen war. ›Frauen, ja, Frauen sind ein Problem.‹ Maria meint, er habe kaum Freunde, weil er nicht aufhören könne, sich mit ihnen zu messen. Auf typisch männliche Weise, nicht gut sein wollen, sondern besser als.
    »Bestellen wir Austern«, sagt Bernhard.
    »Was ich in dem Moment verstanden habe, war: Ich hätte nichts dagegen, ein Außenseiter zu sein, im Grunde war ich immer einer. Mir fehlte bloß die Statur, um es durchzuziehen.Im Seminar musste ich allen Mut zusammennehmen, um den Mund aufzumachen. In den Augen der anderen war ich nichts als ein Scheiß-Liberaler, ungeschult und autoritätsgläubig. Nach den damaligen Maßstäben stimmte das.«
    »Wie bist du auf die Idee gekommen, nach Amerika zu gehen?«
    »Besagter Kommilitone ist ein Jahr vor mir gegangen. In Berlin war ich danach der einsamste Mensch der Welt. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich das Stipendium nicht bekommen hätte. Ich musste weg.«
    »Und warum Philosophie?«
    Hartmut zuckt mit den Schultern: »Interesse.«
    Während der Kellner die Vorspeise abräumt, ruht ihre Unterhaltung. Am Nachbartisch erheben sich alle für einen Toast, ausgebracht von einem älteren Herrn, der bei näherer Betrachtung nicht älter aussieht als Hartmut selbst. Die achtköpfige Gesellschaft scheint eine Verlobung zu feiern, jedenfalls steht ein junges Paar im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Hinter der Terrasse flimmert die heiße Luft über dem Strand. Ein metallisches Glänzen liegt auf dem Wasser. Zu seinem letzten, eigens nach Berkeley geschickten Buch hat sich Hans-Peter bisher nicht geäußert. Wahrscheinlich scheut er davor zurück, das Werk eines Freundes zu verreißen.
    Über den Tisch hinweg sehen sie einander an, und Bernhard winkt ab, als bedürfte das Gespräch eines neuen Impulses. Inzwischen sieht er wacher aus als bei ihrer Ankunft.
    »Nenn mich penetrant, aber wozu überhaupt Philosophie?« Für Grundsatzfragen, auf die es keine Antwort gibt, hatte er schon in Bonn ein besonderes Faible. »Was soll das noch in unserer Zeit? Niemand interessiert sich dafür, obwohl viele so tun. Die Zunft ist krampfhaft darum bemüht, ihre praktische Anwendbarkeit unter Beweis zu stellen, und fällt als Einzige darauf rein. Was tun wir? Für wen tun wir’s?«
    Am Nebentisch klirren Kristallgläser. Hartmut hätte lieber weiter von sich erzählt, aber offenbar hat er seinen Gesprächspartner damit gelangweilt. In dessen

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