Fliehkräfte (German Edition)
Sprachgebrauch gehört Penetranz zu den intellektuellen Tugenden.
»Was sollten wir stattdessen tun?«, fragt er.
»Wein trinken, Bilder malen, auf Berge steigen. Oder uns politisch engagieren und die Dinge verändern. Géraldine sitzt in allen möglichen Komitees und fordert mich auf mitzumachen. An Missständen herrscht kein Mangel. Aber wir widmen uns einer Wissenschaft, die keine ist, und tun so, als suchten wir Erkenntnisse, an denen wir festhalten können. In Wahrheit fahnden wir nach den Gründen, die uns das Festhalten verbieten. Als wollten wir an nichts glauben müssen. Warum?«
»Sag du’s mir.« Hartmut erinnert sich an Abende, an denen amüsierte Blicke vom Nebentisch sie trafen, weil Bernhard mit lauter Stimme und energischen Gesten seine Tiefenbohrungen vornahm. »Die Rolle des desillusionierten Akademikers mag ich zwar nicht, aber was ich ausübe, ist in erster Linie ein Beruf. Er ernährt eine Familie. Beziehungsweise drei miteinander verwandte Individuen.«
»Das ist alles?«
»Als ich meiner Schwester von der Stelle im Verlag erzählt habe, meinte sie: Du wolltest immer Professor werden. Das stimmt. Ich komme aus einem Haus ohne Bücher und wollte Professor werden. Sobald es möglich war, bin ich nach Amerika gegangen, wo mein Doktorvater mir gesagt hat, worüber ich promovieren soll. Es war wichtig für mich, ihn nicht zu enttäuschen. So bin ich zu meinem Fachgebiet gekommen. Irgendwann ist man drin und tut seine Arbeit. Wenn ich zurückblicke, bin ich nicht sicher, ob ich je Illusionen hatte. Ich meine im großen Stil. Es war mehr ein persönliches Projekt.«
Die Austern kommen in einer großen, mit Eis gefüllten Schale. Bernhard lehnt sich in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme.
»Ich bin davon überzeugt«, sagt er ernst, »dass das, was wir tun, von unersetzlichem Wert ist. Der in der praktischen Nutzlosigkeit dessen liegt, was wir tun – Gedanken denken, denenjede Anwendbarkeit abgeht. Abseitig sein, ohne beliebig zu werden. Es geht um die Weigerung, eine Funktion zu erfüllen. Vor kurzem hab ich zu Hause Spinoza gelesen und war beglückt. Ich hatte kein Bedürfnis, darüber zu schreiben, etwas daraus zu machen, ich wollte nur verstehen, was er meint. Übrigens glaube ich, dass Herwegh das genauso gesehen hat, er wollte sich bloß nicht in die Karten gucken lassen. Deshalb hat er von Tradition und historischem Bewusstsein genäselt. In Wirklichkeit war es für ihn gegenwärtig.«
»Nach deinem Abgang hat er sich als Einziger gegen die Reformen gestellt. Auf seine verquere Art, es war kein schönes Schauspiel.«
»Als ob ich’s geahnt hätte. Mein Freund Herwegh.«
Die Tischgesellschaft neben ihnen hat wieder Platz genommen. Trockene Hitze liegt über der Landschaft. Wenn er still sitzt, spürt Hartmut die Wellen des Meeres durch seine Glieder laufen, ein sanftes Auf und Ab.
»Man weiß bei dir nie«, sagt er, »ob du das Gefühl hast, deiner Zeit voraus oder von ihr überrollt worden zu sein. Und was dir besser gefallen würde. Mein Verdacht war damals schon: Es schmeichelt deinem Ego, wenn man dich nicht versteht.«
»In welchem Fall ich mich genau jetzt geschmeichelt fühlen müsste«, erwidert Bernhard trocken.
»Wie kannst du nicht den Wunsch haben, weiter dabei zu sein? Gehört und gelesen zu werden.«
»Vielleicht hab ich ihn und geb ihm nicht nach.«
»Warum?«
»Weil man korrumpiert wird durch das Bedürfnis, andere zu überzeugen. Recht zu bekommen und recht zu behalten. Weil es zwei gegensätzliche Dinge sind, denken und nach Applaus gieren. Sie schließen einander aus.«
»Ich weiß bei dir auch nie, inwiefern du selbst glaubst, was du sagst.«
Die Austern schmecken fischiger und salziger, als Hartmut erwartet hat. Noch beim abschließenden Kaffee hat er das Gefühl, ein Schwall Meerwasser wäre samt Algen durch seinen Rachen geflossen. Nachdem Bernhard die Rechnung beglichen hat, gehen sie zum Auto und folgen der sandigen Piste zurück zur Landstraße. In der Ferne türmen sich weiße Wolken auf, schwebende Eisberge, denen sie nicht näher kommen, obwohl sie darauf zu fahren. Weiter im Landesinneren werden die Pinienwälder abgelöst von Eichen, Birken und gewaltigen Platanen. Schilder warnen vor Wildwechsel. Eine Weile fahren sie schweigend dahin, dann dreht Bernhard ihm das Gesicht zu, als würde er auf eine eben gemachte Bemerkung reagieren: »Und später, als Professor? Was war stärker, das Gefühl, es endlich geschafft zu haben oder
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