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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Arme um seinen Oberkörper und blickt hinaus aufs Meer. Sein erstes Taschenmesser hat er sich gekauft, als er Lehrling am Bergenstädter Landratsamt war. Kein echtes Schweizer, sondern eins mit grün-schwarzem Griff, das seit Jahren in Roßbachs Schaufenster gelegen hatte. Ein Haushaltswarengeschäft mit angeschlossener Tankstelle, oberhalb der Kreuzung, die in Arnau ›Auf der Spitze‹ hieß. Am Rücken verwandelt sich die Feuchtigkeit seines Hemdes in unangenehme Kühle. Ein Surfer kommt aus dem Wasser und lässt sich erschöpft in den Sand fallen. Nach einer Weile gehen sie weiter. Das weiche Pulver unter den Füßen fühlt sich gut an.
    »Was ich dich schon immer fragen wollte ...« Bernhard muss laut sprechen, damit seine Worte nicht untergehen im Rauschen von Wind und Wellen. Beinahe ist es, als wollten die Elemente ihm das Rederecht streitig machen. »War dein alter Herr ein Nazi?«
    »Was?« Hartmut schüttelt den Kopf und dreht sich um. »Nein, war er nicht. Wie kommst du darauf?«
    »Der Generation nach? Außerdem hast du nie von ihm gesprochen.«
    »Er ist lange tot. Ein Nazi war er so wenig wie ein Bildungsbürger. Wenn ich an ihn denke, trägt er seinen grauen Arbeitskittel. Leben und arbeiten war dasselbe für ihn.« Hartmut schaut aufs Meer hinaus, bis er ein Brennen in den Augen spürt. Seltsam, nach welch ferner Vergangenheit das klingt. Ein unauffälliger Mann mit kräftigen Händen, der bis ins Alter volles weißes Haar hatte. Was Hartmut spürt, ist ein Gefühl von Scham, schwächer geworden im Lauf der Jahrzehnte, aber tief im Innern unverändert. Um es abzuschütteln, macht er einen Schritt Richtung Wasser und fragt: »Wie warm oder kalt ist es?«
    »Angenehm kühl. Zwanzig Grad. Spring morgen rein, ich muss zurück.«
    »Gib mir eine Minute.« Mit einer knappen Handbewegung lässt er Bernhard stehen. Der Sandboden ist fester und grobkörniger als oben am Strand. Er geht, bis ihm die Ausläuferder Wellen zu den Waden reichen. Auf den Spaziergängen am Sonntag gab es für jeden ein Rippchen Karina-Schokolade. Manchmal nur ein halbes. Mit Ruth hat er letztes Wochenende darüber gesprochen, zum ersten Mal seit vielen Jahren und ohne dass sie sich hätten einigen können. Seine Schwester meinte, es sei keine billige, sondern besonders gute Schokolade gewesen, und der Vater habe sie manchmal eigens bestellen müssen. Im Tabakladen am Bahnhof. Er erinnert sich an den leicht seifigen Geschmack, bevor sie zu schmelzen begann. Jetzt überkommt ihn ein wohliger Schauer und lässt eine Gänsehaut auf seinen Armen zurück. Den Wind spürt er nicht mehr.
    Möwen jagen dicht über der weißen Gischt dahin. Wellen rollen auf ihn zu, und der Horizont erstreckt sich so offen, dass der Anblick ihn schwindeln lässt.

7 Am nächsten Morgen geht Hartmut über den fast leeren Strand. Hundert Meter weiter haben Angler ihre Ruten in den Sand gesteckt und hocken daneben. Zwei Jogger verlieren sich auf dem breiten Sandstreifen, und draußen im Wasser liegen Wellenreiter bäuchlings auf ihren Brettern. Paddeln in die beste Position für den nächsten Ritt. Hartmut hat sich ein Badetuch aus dem Hotel über die Schultern gelegt, atmet salzige Meeresluft und fühlt sich ungewohnt nackt an den Waden. Glasiges Sonnenlicht fällt den brechenden Wellen entgegen.
    Trotz der frühen Stunde stehen Schweißperlen auf seiner Stirn. Wenige Meter vor dem Wasser zieht er Shorts und Hemd aus, dreht beide ins Badetuch ein und legt das Bündel auf seine Schuhe. Ohne Brille wird aus der morgendlichen Szenerie ein Feld mit verwischten Linien, und wie immer fühlt er sich beobachtet, sobald er nicht mehr scharf sieht. Vor ihm wogt und rauscht ein kräftiges Blau, auf das er zugeht, bis ihn der erste kühle Schock an den Beinen trifft. Muscheln und kleine Steine stecken im Boden. Unter seinen Fußsohlen wird der Sand weggespült, strömt das Wasser zurück und macht seinen Gang unsicher. Obwohl er sich darauf gefreut hat, kostet es ihn Überwindung, ins offene Meer hineinzugehen.
    Als die Füße den Bodenkontakt verlieren, ist der Strand bereits ein Stück entfernt, eine andere Welt, die hinter davonrollenden Wellenkämmen auftaucht und wieder verschwindet.Die Umrisse von Dünen und Häusern zeichnen sich ab vor dem glänzenden Himmel. Beim Verlassen des Hotels hat er sich an frühere Urlaube erinnert, die gemeinsamen Aufbrüche zum Strand und Philippas morgendliche Ungeduld. Jetzt macht er ein paar kräftige Kraulzüge, bevor er sich der

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