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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Wucht des Meeres überlässt. Die Wellen heben ihn hoch und lassen ihn sinken, eine starke Strömung hat ihn bereits ein Stück die Küste hinabgetrieben. Das Atlantique liegt direkt hinter der Düne, mit Brille könnte er das rot leuchtende Dach zwischen den Nachbarhäusern erkennen. Gestern Abend war er dort der einzige Alleinreisende zwischen jungen Familien und älteren Ehepaaren, die das zur Halbpension gehörende Menü verzehrten. Ein gemütlicher Speisesaal, zwischen dessen Backsteinwänden ein Hauch kleinbürgerlicher Enge hing; manche Gäste tranken Rotwein mit Eiswürfeln und hielten ihr Besteck wie schweres Werkzeug in den Händen. Zwei unter dem Tisch hechelnde Hunde bekamen ihren Teil der gebratenen Entenflügel ab.
    Als Hartmut sich auf den Rücken dreht, hat die Sonne Ringe bekommen. Mit jeder Welle, die unter ihm hinweg zum Strand läuft, zieht es ihn weiter aufs Meer hinaus, aber für den Moment bezwingt er den Drang gegenzusteuern. Treibt mit weit ausgebreiteten Armen dahin und fühlt sich auf angenehme Weise ausgeliefert. Einverstanden mit dem Geschehen. Um neun Uhr gestern Abend ist er in die Taverne zurückgekehrt, wo ein jüngeres Publikum als im Hotel vor neonfarbenen Cocktails saß. Solange Bernhard nicht hinter der Theke aushelfen musste, blieben sie draußen auf der Veranda und tranken eine Flasche Bordeaux, die nicht auf der Karte stand. Das Gespräch drehte sich um die Situation an den Universitäten, von denen Bernhard sprach, als weise er einer früheren Geliebten die Schuld an der Trennung zu. Hartmut nippte an seinem Wein und musste an den energischen Ausdruck in Julia Ravenburgs rotwangigem Gesicht denken: eine kulturell interessierte Unternehmensberaterin mit mehr Bonusmeilen auf dem Konto, als Normalsterbliche im gesamten Leben fliegen. Bernhards Trennung von ihrwar in dieselbe Zeit gefallen, in der er seinen Abgang aus Bonn vorbereitet hatte. Zufall oder nicht? Hartmut konnte sich an kein Gespräch darüber erinnern.
    Drinnen wiegten sich die ersten Gäste im Takt der Musik. Schwaden von blauem Qualm waberten durch den Raum, den der leuchtende Schriftzug einer Biermarke in fahles Licht hüllte. Draußen saßen Bernhard und er über den Tisch gebeugt gegen den Trubel der Umgebung.
    »Nenn es, wie du willst.« Bernhards Finger drehten den langen Stiel seines Weinglases. »Ich sage, es sind sterile Anstalten der Wissensvermittlung geworden. Handlichkeit, klare Disziplingrenzen, und jetzt das alberne Eins-zwei-drei der Module. Wie ein Setzkasten: schicke kleine Teile, die ein hübsch anzusehendes Ganzes bilden. Aber kein Platz für sperrige Gedanken.«
    »Du hingegen ...«, sagte Hartmut und versuchte, die zwei angetrunkenen Mädchen zu ignorieren, die am Nebentisch miteinander kicherten. »Ich bemühe mich, aber es fällt mir schwer, in einer Bar die bessere Alternative zu sehen.«
    »Vergiss die Bar und schau auf die Freiräume, die sie mir lässt. Wer außer mir ist acht Monate im Jahr ohne Verpflichtungen und verdient trotzdem gutes Geld?« Bernhard nahm einen Schluck und schien nicht zu wissen, ob er selbstgefällig oder trotzig klingen wollte. »Außerdem bin ich nicht aus Bonn abgehauen, weil ich unbedingt eine Bar betreiben wollte, sondern weil ich die Nase voll hatte von der ständigen Nörgelei. Im gemachten Nest sitzen und daran herummäkeln. Selbst wenn man damit im Recht ist – wer keine Drittmittelanträge mehr stellen und sich keiner geistlosen Evaluation unterziehen will, muss gehen. Voilà, ich bin gegangen.«
    »Hast du noch Kontakt zu Julia?«
    »Ab und zu kriege ich eine SMS. Einmal ist sie nach Bordeaux geflogen und mit dem Mietwagen hier heruntergebrettert, um mir ins Gewissen zu reden. Dass es mir nicht um die Steigerung meines Marktwerts geht, war ihr schwer zu vermitteln. Sie hält mich für romantisch.« Eine Einschätzung, die erlaut lachend zurückwies. Hartmut dachte an ihre gemeinsamen Abende am Rhein, die entspannte Kumpanei unter Männern, für die er seitdem keinen Ersatz gefunden hatte.
    »Seit drei Jahren«, sagte er, »hab ich mit keinem Kollegen ein Glas Wein getrunken. Mit welchem auch? Ich glaube, das fehlt mir mehr als die verloren gegangene Freiheit an unseren Lehranstalten.«
    »Weißt du, was wir machen?« Bernhard griff nach der Flasche und schenkte nach. »Wir fahren übers Wochenende in mein Haus. Vielleicht hat Géraldine Zeit. Wir setzen uns auf die Terrasse und trinken Wein. Was meinst du? Wir könnten morgen losfahren.«
    »Wenn du’s

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