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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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einrichten kannst. Géraldine ist ...?«
    »Meine Freundin. Seit letztem Jahr erst. Im Sommer sehen wir uns selten, weil sie in Mont-de-Marsan wohnt und ich meistens hier bin. Worüber lachst du?«
    »Nichts. Hab mir schon gedacht, dass deine Zufriedenheit noch andere Gründe haben muss als das Geld, das du hier verdienst.« Hartmut nahm sein Glas und hielt den Zeitpunkt für gekommen, endlich über das zu sprechen, was ihn selbst aus Bonn fortgetrieben hatte. »Übrigens denke ich ebenfalls über einen Ausstieg aus der Uni nach. Ähnlich wie du, auch wenn ich keine Bar aufmachen werde. Ein Berliner Verlag hat mir ein Angebot gemacht. In gewissem Sinn ist das der Anlass meiner Reise.«
    Das schrille Geräusch einer Trillerpfeife ruft ihn zurück in die Gegenwart. Eine Weile hat er sich dem Wasser und seinen Gedanken überlassen, jetzt blickt er auf und erschrickt über die Entfernung zum Strand. Gelblich hell und endlos weit erstreckt sich die Küste in beide Richtungen, davor hat sich ein breiter Wasserstreifen geschoben. Die Silhouetten der fernen Häuser sehen fremd aus. Ob der Pfiff ihm gegolten hat, weiß er nicht, möglicherweise ist er abgetrieben in das für Surfer abgesperrte Revier. Mit vollem Krafteinsatz beginnt Hartmut zu kraulen. Die Wellen heben ihn hoch, aber statt ihn mitzunehmen, rollensie davon und lassen ihn schwer atmend zurück. Der Strand ist zu weit weg, um zu erkennen, ob dort jemand steht und nach ihm schaut.
    Von einem Moment auf den anderen überfällt ihn Panik. Seine Bewegungen werden hastig. Er muss sich zwingen, nicht nach jedem Zug aufzublicken, um die Distanz zu schätzen, und verflucht die Arglosigkeit, mit der er sich hat treiben lassen. Erschöpfung lähmt seine Glieder, und sein Herzschlag wird zu einem schnellen Wummern. Bilder von Booten der Küstenwache schießen ihm durch den Kopf, nur eine leise Stimme versichert ihm, dass er nicht ernsthaft in Gefahr ist. Es dauert, bis sie sich Gehör verschafft und das Übertriebene seiner Angst ihm bewusst wird. Immer noch ist der Strand weit weg, aber die Entfernung schmilzt. Wenn Hartmut innehält, bevor eine Welle ihn erreicht, verleiht sie ihm zusätzlichen Schwung.
    Etwa zweihundert Meter unterhalb der Stelle, wo er ins Wasser gegangen ist, watet er durch die knietiefe Brandung zurück an Land. Ausgepumpt, halb euphorisiert und halb beschämt von seinem Abenteuer. Über dem Hinterland steht die Sonne, als wollte sie sich durch den Himmel brennen. Er findet sein Handtuch und setzt die Brille wieder auf. Sofort verliert die Welt ihre bedrohliche Unschärfe, das Meer rauscht und rollt, als wäre nichts geschehen. Ein einzelnes Frachtschiff gleitet über den Horizont. Vergebens hält Hartmut Ausschau nach einer Person mit Trillerpfeife. Vielleicht war es ein Hundehalter beim morgendlichen Spaziergang.
    Er setzt sich in den Sand, streckt die Beine aus und betrachtet die blau mäandernden Adern an den Fußgelenken. Angenehm kühl laufen Wassertropfen über seine Haut. Kurz darauf taucht die erste Familie am Strand auf. Vater und Mutter mit Tochter und Sohn, alle vier ausgestattet mit schützender Kopfbedeckung und bepackt wie eine Karawane reisender Händler. Mit ihren aufgeblasenen Schwimmtieren um den Körper sehen die Kinder aus wie Nachfahren des Minotaurus. Vermutlich Deutsche, wer sonst beginnt seinen Urlaubstag schon um kurz vorneun? Als wäre die Ankunft weiterer Badegäste ein Signal für sie, beginnen die Angler, ihre Sachen zusammenzupacken.
    Einen Steinwurf von Hartmut entfernt bleiben die vier stehen, um über den besten Lagerplatz zu beraten. Kinderfinger weisen hierhin und dorthin. Der Anblick erfüllt ihn mit Wehmut: die Nähe, das Zusammenspiel von großen und kleinen Körpern. Mit geschlossenen Augen streckt er sich im Sand aus und sieht seine vierjährige Tochter über den Praia da Falésia rennen. Noch nicht das schlaksige Schulkind späterer Jahre, sondern liebenswert pummelig in ihrem türkisen Badeanzug. Die Taucherbrille ist verrutscht, nasse Haare kleben am Kopf, so kommt sie in seine Arme gelaufen mit dringenden Mitteilungen: was Delphine über Haie denken und dass sie einen Krebs gesehen hat. Maria liegt daneben und gibt vor, in ihrem Buch zu lesen. Theatertheorie, viel zu schwierige Lektüre für den Strand. Mit der Fingerspitze entfernt sie ein Stück Seetang von Philippas Wade, bevor sie gemächlich umblättert.
    Ferne Rufe. Warmer Sand. Das Geschrei von Möwen und dahinter das Meer, so beständig rauschend,

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