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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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selbst, könnte man von Perlokution sprechen. Hätte Felix allerdings ›Re fe renz‹ gesagt, wie heute Mittag am Rehsteig, könnte das Kind sich aufgrund des Gemeinten zwar trotzdem geehrt fühlen, aber ein Beobachter würde sagen, es sei ein Fehler passiert. Oder in Ruths Worten: Du musst dich konzentrieren, mein Schatz. Jetzt atmet sie aus und greift kurz nach Heiners Hand.
    Einer nach dem anderen verschwinden die jungen Akteure in der Sakristei. Ihre Souffleure signalisieren Entwarnung. Die Mühe hat sich gelohnt. Frohes Fest!
    Zum Abschluss erlöschen die Lichter, und in der feierlichen Dunkelheit steht die Gemeinde auf und singt O du fröhliche .Hartmut singt halblaut mit, und Ruth lehnt sich für einen Moment an ihn, als wollte sie entweder den Streit vom Vorabend beenden oder ihn auffordern zuzugeben, dass ihm in Wahrheit gefällt, was er aus unerfindlichen Gründen als lästige Verpflichtung abtun muss. Jedes Jahr behauptet er, dass eine mehrtägige Unterbrechung seiner Arbeit ihn uneinholbar in Verzug bringen werde, aber würde er an Heiligabend wirklich lieber am Schreibtisch sitzen und Fahnen korrigieren?
    »... freue dich, o Chris-ten-heit.«
    Nach dem letzten Akkord folgt ein Moment der Stille, bevor erneut die Orgel einsetzt und die Gemeinde hinaustreibt in den zu milden Heiligen Abend. Neun Grad waren es, als sie am Rehsteig aufgebrochen sind. Hartmut hält sich abseits, während Ruth und Heiner ihren Bekannten frohe Weihnachten wünschen. Ringsum versuchen Kinder, ihre plaudernden Eltern von der Stelle zu bewegen. Florian und Felix verabschieden sich von ihren Freunden und kommen auf ihn zugestürmt. Wahrscheinlich ahnen sie nicht, dass in Wahrheit sie es sind, die ihn ablenken von seiner inneren Unruhe. Auch wenn Ruth es ihm gestern nicht glauben wollte, für ihn geht es um sein Glück, die Zukunft, um alles. Verglichen damit ist die Habilitation eine Nebensächlichkeit.
    »Ich will, dass meine Söhne sich an diese drei Tage als die schönste Zeit des Jahres erinnern.« Mit diesen Worten hat seine Schwester am Vorabend die Frage zurückgewiesen, ob sie es nicht übertreibe mit ihren Vorbereitungen für das Fest. Um halb elf lagen die Zwillinge endlich im Bett, und sie beide standen in der Küche, wo ein Wirrwarr von Zutaten die Arbeitsfläche bedeckte. Saucen für das Fondue mussten angerührt werden. Obwohl der Herd ausgeschaltet war, bedeckte milchiger Dunst die Terrassentür.
    Hartmut nahm einen Teller aus der Spüle und stellte ihn auf die Anrichte. Draußen erklang das trockene Klacken einer Axt; Heiner bearbeitete den Stamm des Weihnachtsbaums, damit er in seine Halterung passte.
    »Merkst du, dass du mir die Sachen in den Weg stellst?«, fragte Ruth.
    »Ich weiß nicht, wo sie hingehören.«
    »Frag mich, ich müsste es wissen.«
    »Die Teller?«
    »Da.« Mit dem Kinn wies Ruth auf einen Hängeschrank und zog den Kopf ein, als Hartmut ihn öffnete. »Du musst jetzt ausgerechnet an dieses Fach, ja?«
    »Ich sollte dir zur Hand gehen.«
    »Setz dich hin und probier das!« Ungeduldig hielt sie ihm ein Schälchen mit hellgelber cremiger Sauce hin. Die Müdigkeit in ihrem Gesicht sah aus wie Unzufriedenheit, und sie hatte schon dort gesessen, als Hartmut am Nachmittag angekommen war.
    »Was ist das?«
    »Soll gut zu Fonduefleisch passen.«
    »Schmeckt jedenfalls gut.«
    »Nicht zu viel Mayonnaise? Zu wenig Curry? Mehr Salz?«
    Er schüttelte den Kopf, und Ruth deckte das Schälchen mit Zellophanfolie ab und schob es beiseite.
    »Glaubst du«, hakte Hartmut nach, »dass deine Söhne Weihnachten in weniger guter Erinnerung behalten werden, wenn es nur drei Saucen zum Fondue gibt?«
    »War das eine philosophische Frage?« Sie schaute vom Rezept auf und fixierte ihren Bruder. »Professor Hainbach?«
    »Du siehst müde aus, und wie ich die beiden kenne, essen sie sowieso Ketchup.«
    »Und? Wollen wir alle morgen Abend Ketchup essen?«
    »Lass uns eine Flasche Wein aufmachen und ins Wohnzimmer gehen. Es gibt etwas, das ich dir erzählen will. Das Essen können wir morgen vorbereiten.« Seit er damit begonnen hatte, seine Habil für die Publikation zu überarbeiten, brauchte er gegen Mitternacht einen Schluck Alkohol, um die kreiselnden Gedanken anzuhalten. Seit zwei Wochen galt das auch für die arbeitsfreien Abende.
    »Morgen muss ich den Baum schmücken, einen Kuchen backen, das Fleisch vom Metzger holen, das Baguette vom Bäcker, unsere Mutter will zum Friseur gefahren werden und ...«
    »Wir sind

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