Fliehkräfte (German Edition)
Habilitation.«
»Vielleicht warst du abgelenkt von anderen Projekten.«
»Ja, war ich. Deshalb muss ich jetzt publizieren, was das Zeug hält. Was mir wenig Zeit lässt für das, was du herablassend ›andere Projekte‹ nennst, weil du mir unterstellst, es wäre nur Zeitvertreib. Es ist aber mein Leben. Wirst du dieses Glas nehmen oder nicht?«
Tatsächlich hatte er sich fast schon entschlossen, das Angebot aus Dortmund abzulehnen, als Professor Simon ihn zu sich bestellte und keinen Zweifel daran ließ, was von ihm erwartet wurde. Dieses eine Mal habe er sich mit Erfolg für ihn eingesetzt. Sollte Hartmut die Chance verstreichen lassen, werde er fortan auf sich allein gestellt sein, und der Vertrag an der TU laufe definitiv aus. Offenbar hatte dem Chef jemand geflüstert, dass sein Schützling nicht erpicht darauf war, Berlin zu verlassen. Mit Spekulationen über die Gründe hielt ProfessorSimon sich nicht auf. Die letzten drei Jahre hatten seinen Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt. Hartmut war keine Wahl geblieben. Seit Oktober konnte er vom Schreibtisch aus hören, wenn im Westfalenstadion ein Tor fiel. Ansonsten ignorierte er die Stadt, so gut es ging.
»Zum Wohl«, sagte er. »Auf ein harmonisches Weihnachtsfest.«
Ruth setzte sich auf die Ofenbank und drehte ihr Glas in der Hand. Im Regal stand ein alter Schwarzweiß-Fernseher. Der graue Sofabezug glänzte vor Abnutzung, und an einigen Stellen quoll die Polsterung durch. Der gesamten Einrichtung war anzusehen, wie die monatlichen BHW-Raten drückten. Von seinem Angebot, finanziell auszuhelfen, wollte Ruth bisher nichts wissen.
»Heiner hat mich darauf aufmerksam gemacht«, sagte sie. »Vor ein paar Wochen, nachdem ich mit dir telefoniert hatte. Er meinte, jedes unserer Gespräche beginnt damit, dass ich dich frage, wie’s dir geht.«
»Er hört mit, wenn wir telefonieren?«
»Wir sind verheiratet, ich schicke ihn nicht aus dem Zimmer.«
»Natürlich nicht. Aber wenn es um mich geht?«
»Das ist der Punkt. Heiner hat gefragt, ob du dich später auch erkundigst, wie es mir geht. Was es in meinem Leben Neues gibt. Und ich wollte sagen: Ja, natürlich tut er das.« Als wäre sie innerlich nicht bei der Sache, stand sie von der Ofenbank auf und zupfte eine Falte aus dem roten Packpapier. Dann setzte sie sich wieder und trank.
»Tue ich das nicht?«
»Normalerweise ist dringlicher, was in deinem Leben passiert. Wie es dir geht. Meistens nicht so gut, oder jedenfalls könnte es besser sein. Bei mir passiert wenig, nicht wahr? Worüber ich mich nicht beklage, ich hab mich so entschieden und würde es höchstens im Kleinen anders haben wollen. Zum Beispiel stört es mich, dass ich kein Abitur habe. Ist mir neulichklar geworden, als wir mit Freunden gewandert sind. Oder ein bisschen Geld verdienen, halbtags. Wir könnten es gebrauchen, aber ob ich mir den Schichtdienst im Krankenhaus antun will? Ich suche nach anderen Möglichkeiten. Hab ich dir erzählt, dass ich Mitglied bei den Grünen bin?« Ihre Miene hellte sich auf, als hätte sie einen guten Witz gemacht. »Hättest du mir nicht zugetraut, was? Du dachtest, deine Schwester kann nur Fonduesaucen. Stattdessen werde ich radikal.«
»Das meintest du mit Halbtagsjob – du willst in die Politik gehen?«
»Was heißt schon Politik. Ich wurde gefragt, ob ich fürs Stadtparlament kandidieren will. Mal sehen. Warum eigentlich nicht?«
»Wieso kandidierst du nicht für die SPD?«
»Du hältst es wahrscheinlich für spleenig, aber ich hab mich gefragt, ob es eine Sache gibt, dir mir wirklich am Herzen liegt. Gibt es. Ich will nicht, dass meine Kinder in einer Welt voller Atomraketen aufwachsen.«
Um sich nicht erneut vorhalten zu lassen, er belächele das Tun seiner Schwester, verzichtete Hartmut auf eine Erwiderung. Die Friedensbewegung hatte am Rehsteig schon vor längerer Zeit Einzug gehalten. An der Wand hing ein Poster mit Zitaten von Heinrich Böll und Ernesto Cardenal, die ein wenig gravitätisch von Schreibtischen handelten: den unschuldigen der Dichter und dem nur unschuldig aussehenden von Otto Hahn. Je nachdem in welcher Stimmung Heiner war, könnte es auch morgen beim Fondue vor allem um atomare Bedrohung gehen.
»Okay«, sagte er. »Du meinst also, ich erkundige mich zu selten danach, wie es dir geht. Kann sein. Ich bin davon ausgegangen, dass du glücklich bist mit deinem Leben. Nicht erst in letzter Zeit, immer schon. Damals schon.«
»Trotzdem hab ich beschlossen, in Zukunft weniger
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