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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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unserer Mutter zu ähneln. Irgendwann muss man anfangen, und ich hab mir gesagt: am besten jetzt.« Ruth lächelte in den leeren Raum, den ab morgen der Weihnachtsbaum füllen würde.Dann schaute sie wieder zu Hartmut. »Damit zu dir und deinem bewegten Leben. Du bist verliebt, das hab ich dir sofort angesehen, als du durch die Tür gekommen bist. Wie heißt sie nun?«
    Hartmut setzte sich in einen der Sessel. Unter der Couch entdeckte er eine Spielfigur von der letzten Partie Mensch ärgere Dich nicht . Wahrscheinlich würde es ihm nicht gelingen, seiner Schwester zu erklären, warum diesmal alles anders war. Das erste Zusammentreffen lag zwei Jahre zurück, aber er erinnerte sich an jedes Detail. Wieder ein zaghafter Beginn im Winter, nach den heftigsten Schneefällen des Jahres und einer Party bei Kollegen von der TU. Für seine Verhältnisse hatte er viel getrunken und sich trotzdem nüchtern gefühlt. Als die Feier zu Ende ging, stiegen einige Unermüdliche in die U-Bahn nach Tempelhof, um sie am Platz der Luftbrücke wieder zu verlassen. Geparkte Autos bildeten weiße Skulpturen, Schneebälle flogen, Flaschen kreisten. Ausgelassene Stimmung allenthalben. Die Luft war klar und kalt, und die Wolken über der Stadt zogen langsam nach Osten. Was sie vorhatten, war eine nächtliche Schlittenpartie auf dem Kreuzberg.
    Tereza hatte zu viel Bowle getrunken. Im Gehen schlang sie beide Arme um ihn und begann, ihm auf die Nerven zu gehen mit ihrer Anhänglichkeit. Beim Nationaldenkmal standen vermummte Gestalten und applaudierten, wenn in der Nähe ein Schlitten umkippte. Hier und da leuchtete Zigarettenglut auf und erhellte Gesichter, die in der nächsten Sekunde wieder verschwanden. Um sich aus ihrer Umarmung zu befreien, fasste er Tereza bei den Schultern und sagte: »Lass uns Schlitten fahren.«
    »Zu gefährlich. Ich bin noch nie Schlitten gefahren.«
    »Warte hier. Ich besorg uns einen.« Er ließ sie stehen und ging ein paar Schritte den Hang hinunter. Dietmar Jacobs und seine Freundin kamen ihm entgegen und zogen einen Holzschlitten hinter sich her. Der Schnee war so tief, dass Hartmut bis zu den Schienbeinen versank.
    »Was dagegen, wenn ich den mal ausleihe für eine Fahrt?«
    »Hainbach, alter Genosse!« Dietmar trug eine Nickelbrille, halblange Haare und kultivierte auch sonst seine Ähnlichkeit mit John Lennon. Die Frau neben ihm kannte Hartmut nur vom Sehen. »Ich dachte, du wärst schon weg.«
    »Nur für zwei oder drei Fahrten. Wie ist die Bahn?« Sie kannten einander kaum, auch wenn Dietmar stets so tat, als wären sie beste Freunde.
    »Hier, nimm. Die Bahn ist so frei wie wir. Carpe noctem.«
    »Du solltest dir öfter mal selbst zuhören«, sagte Dietmars Freundin. Den Rest bekam Hartmut nicht mit, weil die beiden weitergingen und er den Schlitten in Augenschein nahm. Ein ähnliches Modell hatte er früher besessen, bloß mit stabileren Sitzleisten und rostfreien Kufen. Er zog ihn hinter sich her und fand Tereza bei einer Gruppe von Leuten, die ihm schon auf der Party aufgefallen waren, weil sie den ganzen Abend in der Küche debattiert hatten, statt zu tanzen. Den Rothaarigen erkannte er wieder, der immer noch mit großen Gesten in die Runde dozierte, neben sich eine dunkelhaarige Schöne, rauchend und mit verlorenem Blick.
    »Bereit zur Abfahrt.« Er tippte Tereza auf die Schulter, sah in die Runde und versuchte vergebens, dem Blick der jungen Frau zu begegnen. Kurz darauf saß er hinten auf dem Schlitten und Tereza vor ihm zwischen seinen Beinen. Sie bekreuzigte sich und sagte: »Manchmal auf Partys habe ich den Eindruck, du wärst lieber alleine dort. Ohne mich.«
    »Unsinn.«
    Sie legte den Kopf zurück und versuchte, ihn anzusehen.
    »Es ist nicht meine Art, mich zu beschweren, oder?«
    »Halt dich fest, am besten an meinen Knien. Und pass auf, dass die Schnur nicht unter die Kufen gerät.«
    »Es ist auch keineswegs so, dass ich mir in der Rolle gefallen würde.«
    »Die Füße vorne auf die Querstange.« Mit einem kräftigen Stoß schob er den Schlitten an, hielt Tereza fest und fasste mit der anderen Hand an die Sitzleiste. Der Schlitten fuhr zwei Meter, dann blieb er stehen. Tereza nickte: »Es ist weniger gefährlich, als ich dachte.«
    »Zweiter Versuch.« Noch einmal stieß er sich ab, und der Schlitten rutschte nach vorne, bevor er mit einem knirschenden Geräusch zum Stehen kam. Erst beim dritten Mal war der Hang steil genug, dass sie gemächliche Fahrt aufnahmen. Ein Kleinkind hätte ohne

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