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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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zu dritt, Ruth. Du brauchst nicht alles alleine zu machen.«
    Sie tauschten einen Blick. Die Auseinandersetzung hatte vor langer Zeit begonnen und zog sich offen oder verdeckt durch alle ihre Gespräche. Draußen stieß Heiner einen kräftigen Fluch aus.
    »Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Der hat gut reden. Frei wie er ist von familiären Verpflichtungen.«
    »Du glaubst, du weißt, was ich denke?«
    »Habt ihr Wein im Keller?«
    »Heiner hat welchen für morgen Abend gekauft.«
    »Kaufen wir eben morgen früh eine Flasche nach. Übrigens scheinst du nicht neugierig zu sein, was ich dir erzählen will.«
    Ruth seufzte, antwortete aber nicht. Hartmut stand bereits in der Tür.
    »Wir haben uns seit einem halben Jahr nicht gesehen«, sagte er.
    »Weil du keine Zeit hast. Obwohl es bloß zwei Stunden sind von Dortmund.«
    »Jetzt bin ich hier. Ich hol den Wein rauf und ... Was?«, fragte er, weil Ruths Blick weniger Einverständnis als Resignation signalisierte.
    »Vielleicht frage ich nicht, weil ich schon weiß, was du mir erzählen willst. Weil es nicht schwer zu erraten ist. Abgesehen von ihrem Namen natürlich, der das Neueste an der Geschichte sein dürfte. Um nicht zu sagen, das einzig Neue.« Damit wandte sie sich wieder ihren Rezepten zu. »Die Frage ist also nicht, was du zu erzählen hast, sondern ob ich es hören will.«
    »Du könntest dich irren.«
    »Okay. Wie heißt sie?«
    »Nicht zwischen Tür und Angel. Räum die Sachen weg, ich bin gleich wieder da.« Er ging durch den kühlen Flur und die Treppe hinab. Weiß getünchte Wände mit Regalen voll ausrangierter Spielsachen. In der Vorratskammer empfing ihn der Duft geräucherter Würste. Getrocknete Pflaumen lagen auf einem Backblech. Da Ruth und Heiner selten Wein tranken, standen lediglich zwei Flaschen im Regal. Fröstelnd studierte Hartmut die Etiketten, aber wie immer in den letzten zwei Wochen schweiften seine Gedanken ab, sobald er sich zu sammeln versuchte. Kehrten zurück zu der schüchternen Selbstverständlichkeit, mit der sie am vorletzten Freitag seine Wohnung betreten hatte. Nach der brieflichen Ankündigung ihres Besuchs, weil sie in Berlin kein Telefon besaß. Zwei Tage lang war er wie aufgedreht durch die Zimmer gelaufen. Als sie hereinkam, hing sein Blick an ihr, während ihrer über die spärliche Einrichtung wanderte. Dann aus dem Fenster auf den Balkon. Ihre schlanke Silhouette verharrte vor dem grau verhangenen Dortmunder Himmel. Lächelnd, so als habe sie entweder nicht bemerkt oder nichts dagegen, dass es nur ein Bett gab, drehte sie sich zu ihm um. Ob sie draußen rauchen dürfe?
    Als Hartmut mit einer Flasche Riesling in der Hand nach oben kam, war in der Küche das Licht gelöscht. Ruth stand im Wohnzimmer vor dem Platz, den sie am Nachmittag gemeinsam frei geräumt hatten für den Weihnachtsbaum. Rotes Papier lag über dem Parkett. Ein Karton mit Baumschmuck stand geöffnet auf der Ofenbank.
    »Ich fürchte, wir werden die Spitze kappen müssen«, sagte sie.
    »Die Spitze kappen?« Er nahm den Flaschenöffner vom Tisch und drehte ihn in den Korken.
    »Heiner sagt, der Baum ist zwei fünfzig hoch. Plus zehn Zentimeter Halterung.«
    »Abschneiden, was übersteht – mein Motto beim Überarbeiten der Habil.«
    »Es sieht schöner aus mit Spitze.«
    »Vielleicht kann Heiner ihn schräg in die Halterung stecken, dann ...« Er brach den Satz ab, weil Ruth sich umdrehte und ihn ansah. Sie war breiter geworden um die Hüften und strahlte nicht mehr den Chic der jungen Mutter aus, sondern trug Jeans, Pulli und ausgetretene Hausschuhe.
    »Warum hab ich das Gefühl, dass du ein bisschen belächelst, was ich hier mache.«
    »Das tue ich nicht.«
    »Was ist lächerlich daran, mehr als das eigene Glück im Auge zu haben?«
    »Es stimmt nicht, Ruth. Es ist dein Leben, und ich schaue nicht darauf herab. Im Gegenteil.«
    »Inzwischen bist du Professor«, sagte sie, als verfolge sie einen anderen Gedanken, »aber du beschwerst dich, weil es nur eine Vertretung ist und du nach Dortmund ziehen musstest. Als würdest du nicht sehen, was du erreicht hast.«
    »Warum trinken wir nicht einfach einen Schluck und entspannen uns. Dank deines Einsatzes wird es ein schönes Weihnachtsfest werden. Ich belächele das nicht.« Er hielt ihr das Glas hin. »Mein Punkt war lediglich, dass ich es nach dem Ende der Vertretung schwer haben werde, eine ordentliche Professur zu ergattern. Der Goldrausch ist vorbei, und ich hab zu lange gebraucht für meine

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