Schneegestöber (German Edition)
I.
»Du wirst nie erraten, wen ich eben gesehen habe!« Kitty nahm sich nicht die Zeit, die Türklinke in die Hand zu nehmen. Mit einem undamenhaften Stoß beförderte sie die Zimmertür ins Schloß. Ein lautes Krachen erschütterte die stillen, weitläufigen Gänge von Mrs. Cliffords Institut für höhere Töchter.
Mary Ann war eben dabei, den Brief zu öffnen, den ihr eine der jüngeren Schülerinnen vorbeigebracht hatte. Nun fuhr sie erschrocken zusammen und hielt in ihrer Tätigkeit inne: »Mr. Simmons nehme ich an«, sagte sie trocken.
Kitty hatte die Bänder ihres kecken Reithutes gelöst und warf diesen im hohen Bogen auf ihr Bett. »Mr. Simmons?« wiederholte sie erstaunt.
Mary Ann nickte: »Ja, Mr. Simmons, den Musiklehrer.«
Sie nahm den weißen Bogen aus dem Briefumschlag. »Wenn ich mich nicht irre, dann ist heute Dienstag. Und da steht die Klavierstunde bei Mr. Simmons auf deinem Stundenplan.«
»Ach so, ich habe die Stunde abgesagt«, Kitty machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir haben heute so schönes Wetter. No puede ser mejor! Zu Mittag hat sogar die Sonne durch die Wolkendecke geblinzelt. Da habe ich beschlossen, den Tag nicht nur zwischen den dicken Mauern des Hauses zu vergeuden. Ich bin statt dessen ausgeritten. Und ich bin so froh, daß ich es getan habe! Denn es war ein wunderbarer Ritt. Und was das allerschönste ist: Ich habe ihn gesehen.«
»So, und wer hat dich gesehen?« erkundigte sich Mary Ann, ohne von dem Schreiben aufzublicken, das sie in beiden Händen hielt. Sie war weit davon entfernt, die Begeisterung ihrer Freundin zu teilen.
»Niemand. Estoy seguro. Ich bin ganz sicher. Wirklich, Annie, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich passe immer sehr gut auf, wenn ich alleine ausreite. Wenn mich Mrs. Clifford dabei erwischt, dann ist es sicherlich aus mit diesem Vergnügen. Und es werden unshier wahrlich nicht sehr viele Vergnügungen geboten. Aber nun muß ich dir von meinem Erlebnis erzählen. Mary Ann, hörst du mir überhaupt zu?«
Ihre Freundin saß reglos in ihrem Sessel und starrte auf das Blatt Papier in ihren Händen. Und doch hatte es den Anschein, als nehme sie nicht wahr, was dort geschrieben stand. Ihr Blick war traurig und abwesend. Mit raschen Schritten war Kitty bei ihr und legte fürsorglich den Arm auf ihre Schulter: »Um Himmels willen, Annie. Was ist passiert? Was steht denn in diesem Brief, das dich so erschreckt hat?«
Mary Anns Blick löste sich langsam von dem Schreiben. Tränen waren in ihre Augenwinkel getreten, als sie sich nun ihrer Freundin zuwandte: »John hat den Vertrag mit Mrs. Clifford verlängert«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Kitty war, als könne sie ihren Ohren nicht trauen: »Er hat was getan?« rief sie aus. »Aber Annie, du wirst im Dezember einundzwanzig Jahre alt!«
»Das weiß ich auch«, bestätigte diese mutlos.
»Dein Bruder kann dich doch nicht bis zu deinem Lebensende hier auf diese Schule schicken! Du bist doch jetzt schon viel zu alt für das Internat. Alle Mädchen verlassen das Haus mit siebzehn, spätestens mit achtzehn Jahren. Wenn ich im nächsten Februar achtzehn werde, ziehe ich zu Tante Jane und werde in die Gesellschaft eingeführt. Dein Bruder hätte dich längst nach London holen müssen, um dein Debüt für dich auszurichten.«
Mary Ann zuckte resigniert mit den Schultern: »Hätte er wohl«, bestätigte sie. »Aber er tat es nicht.«
»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?« ereiferte sich ihre Freundin. »Dein Bruder, der hoch ehrenwerte Lord Ringfield, bewohnt eines der schönsten Häuser im vornehmen Stadtteil Mayfair. Wenn man den Gesellschaftsspalten der Gazetten glauben darf, gibt er in jeder Saison einen Ball und zahlreiche Soireen. Deine Schwägerin ist tonangebend in der mondänen Damenwelt. Es sollte doch ein leichtes für die beiden sein, dich in die Gesellschaft einzuführen.«
»Ach, Kitty, dieses Thema haben wir doch schon so oft besprochen. Denkst du denn, ich wäre nicht gerne in London? Denkst du denn,ich mache mir keine Gedanken über das Verhalten meines Bruders?« entgegnete Mary Ann, und Unmut war aus ihrer Stimme zu hören.
»Tatsache ist, daß mein Bruder mich nicht bei sich haben will. Es scheint, als müßte ich mich damit abfinden. In den Wochen, die ich in den Ferien auf seinem Landsitz Ringfield Place verbringe, ist er eigentlich immer ganz freundlich und nett zu mir.«
»Warum sollte er das auch nicht sein!« warf Kitty spöttisch ein.
»Wenn ich mich recht
Weitere Kostenlose Bücher