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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Mühe neben ihnen herlaufen können.
    »Qué curioso! Qué ameno!« Tereza breitete die Arme aus, als wollte sie den Hauch von Fahrtwind einfangen. Über kleine Unebenheiten im Boden huppelten sie bergab.
    »Es ist wie fliegen«, sagte sie. »Bloß schöner.«
    »Es ist ein Scheiß Schlitten mit rostigen Kufen.«
    »Qué placentero!«
    In Zeitlupe fuhren sie an schneebedeckten Linden und Ahornbäumen vorbei. Ein harmloses Vergnügen, das der Liebschaft ähnelte, die Tereza und er seit drei Jahren unterhielten. Auch die war angenehm frei von Ambitionen und Zielen. Gutwillig unterliefen sie alle Ansprüche, die man gemeinhin an eine Beziehung stellt. Wenn er darüber nachdachte, staunte er am meisten über die lange Zeit, die sie miteinander verbracht hatten. Die Wiese wurde wieder flach, und ihr Schwung reichte für einen weiteren Meter des Auslaufens, dann stand der Schlitten still. Gemeinsam ließen sie sich in den Schnee fallen.
    Tereza nahm eine Handvoll Schnee und rieb sie ihm ins Gesicht.
    »Rache«, sagte sie zufrieden.
    »Wofür?«
    »Du hast immer noch nicht gesagt, ob du im Sommer mitkommen willst.«
    »Im Sommer, Tereza. Jetzt haben wir Januar.«
    »Je früher du es sagst, desto länger kann ich mich freuen.«
    »Wir werden sehen«, sagte er und küsste sie. »Noch eine Fahrt?«
    Noch zwei Mal rutschten sie den Hang hinunter, danach überließ er Tereza ihrer neuen Leidenschaft und gesellte sichzu der Gruppe neben dem Denkmal. Seine Armbanduhr zeigte halb drei. Auf einem Gaskocher wurde Glühwein erhitzt, und im bläulichen Schein der Flamme erkannte Hartmut die Inschrift ›Leipzig den 18. Oktober 1813‹. Jemand spielte Gitarre. Dietmar reichte ihm einen dampfenden Becher und nahm die Mitteilung, der Schlitten sei noch in Gebrauch, mit einem Abwinken entgegen.
    »Gehört mir sowieso nicht.«
    »Kennst du die Truppe da drüben?« Erneut hatte er den Rothaarigen entdeckt und dieselben ernsten Mienen um ihn herum, aber das Gespräch schien verstummt zu sein.
    »Den Roten kenn ich, Falk Merlinger. Theater-Genie von eigenen Gnaden, soll heißen: Der Beweis für sein Talent liegt darin, dass er nie gedruckt oder aufgeführt wurde. Daneben seine Muse, drum herum die Entourage.«
    »Schöne Frau«, sagte Hartmut mehr zu sich selbst.
    »Ich hab mal mit ihr gesprochen, aber der Name ist mir entfallen. Kriegst du den Hals eigentlich nie voll?«
    »Wie ist sie so?«
    »Wie du, eher unnahbar. Okay, Bruder. Pass auf, was ich jetzt tue, denn ich tu’s für dich.« Bevor Hartmut ihn zurückhalten konnte, ging er auf die Gruppe zu und tippte der Frau auf die Schulter. Als sein ausgestreckter Arm auf ihn deutete, wendete Hartmut sich ab und nippte an seinem Glühwein. Auf der von Mondlicht erhellten Wiese erkannte er Tereza, die mit zwei Freundinnen vom Schlitten fiel und vor Begeisterung in die Hände klatschte.
    »Das ist er«, sagte hinter ihm Dietmars Stimme. »Alles, was ich dir zum Thema Sprechakte nicht sagen konnte, erfährst du von ihm. Er ist der Experte.«
    Hartmut drehte sich um und begegnete einem gleichzeitig freundlichen und ernsten Blick. Nickend nahm er ihre ausgestreckte, in einem Stoffhandschuh steckende Hand.
    »Hallo. Sprechakttheorie interessiert mich.« Sie sprach mit einem Akzent, den er nicht zuordnen konnte, und mit einerheiseren, von Tabak angegriffenen Stimme, in der mehr Melodie lag, als das Deutsche verlangte.
    Er lachte, halb aus Unsicherheit und halb aus Belustigung. Nachts um halb drei lernte er eine schöne Frau kennen, und alles, was sie von ihm wollte, war eine Belehrung in Sprechakttheorie.
    Sie lachte nicht, sondern wartete ohne Anzeichen von Ungeduld darauf, dass er sich wieder beruhigte.
    »Was genau willst du wissen?«, fragte er.
    »Mich interessiert das fürs Theater. Wenn man die Handlung aus einem Stück wegnimmt. Der Rest, der bleibt: Sprechakte.«
    Er erwartete, dass sie als Nächstes ein paar Dogmen hersagen würde wie ›Es gibt keine Stücke mehr, weil es keine Subjekte mehr gibt‹ oder ›Das bürgerliche Theater ist tot‹ oder dergleichen, aber sie zog bloß an ihrer Zigarette und sah ihn an. Unter ihrer Strickmütze lugten dunkle Haare hervor.
    »Willst du nicht reden darüber?«, fragte sie und wandte sich zum Gehen.
    »Doch. Ich kann bloß zu Sprechakten und Theater nichts sagen.«
    »Aber zu Sprechakten.«
    »Das Ganze ist entstanden aus der sogenannten Philosophie der normalen Sprache.« Sie wollte es wissen, also sagte er es ihr und bemühte sich nur am Anfang

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