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Fließendes Land (German Edition)

Fließendes Land (German Edition)

Titel: Fließendes Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Overath
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Plankton fressen oder sich an einer gereichten Krabbe schmatzend festsaugen.
    Sie stand auf. Es war sehr warm. Sie spürte die Feuchtigkeit auf ihrer Haut. Sie sah sich um. Wie verblaßte Scherenschnitte zog sich das Band der Passanten weiter. Die nackten Einheitsfenster der Institute und Büros waren ins flimmernde Grau der Fassade übergegangen. Die Sonne hatte den Zenit überschritten, die Zeit der Schatten begann.
    Einmal werde ich nachts hierherkommen, dachte sie und richtete sich auf. Und dann werde ich es sehen:
    In all den Fenstern, sie fuhr mit den Augen langsam die Fassaden ab, in all den Fenstern wird schwach das bläuliche Licht stehen. Und über all die Bildschirmschoner werden bunt und bunter und unaufhörlich die Fische ziehen und sich drehen, unaufhörlich die Fische in den Fluten aller Fenster in der See der Nacht.

Der Stuhl in London
    Henrike war fortgegangen. Sie hatte gesagt, ich könne sie später bei Timothy anrufen. So blieb ich den Nachmittag über in der Wohnung und las herum. Aus einem Kinderbuch, das in London spielte, hatte ich mir den Satz notiert: »We didn’t have a television yet, so I couldn’t switch it on to make things sound normal.« Dann nahm ich die Untergrundbahn bis Waterloo. Es war wohl Sonntag. Um zu wissen, wo ich war, lief ich hinüber zu dem Riesenrad, das sich in großer Höhe langsam über der Themse drehte. Es hieß London Eye und kam in dem Kinderbuch vor. Familien standen noch Schlange vor den sich kaum merklich neigenden und ansteigenden Glaskabinen. Das Aquarium, einige Schritte weiter, war schon geschlossen. Durch die Scheiben sah man hinein in eine Vorhalle zu einem alten Auto, in dessen Innenraum bunte Fische schwammen. Kopfüber stießen sie in den Sand. Ich trödelte weiter über die Brücke. Es roch nach gerösteten Erdnüssen und Algen.
    Langsam wurde es dunkel.
    In Westminster Abbey, hatte Henrike gesagt, sei Evensong. In einer fremden Stadt ist eine Kirche immer ein sicherer Ort. Für Touristen blieb sie zu dieser Stunde geschlossen. Ein rot livrierter Kirchendiener ließ mich passieren, einer in schwarz wies mir einen Platz zu. Dicht an dicht saß man in Anoraks und dicken Mänteln.
    In doppelter Reihe lief ein Chor von Knaben ein. Gesicht an Gesicht öffneten sich Münder über den weißen Kragen. Dann wurde es in den hellen Stimmen still. Nach dem letzten Lied verließen die Gläubigen aufgeräumt das Schiff.
    Draußen regnete es jetzt stärker. Die Straßen spiegelten voller Lichter. Es war schwierig, sich zu orientieren. Ich sah nur spitze Winkel und den Fluß. Ich würde noch nicht anrufen können.
    Irgendwo hier in der Nähe mußte der Trafalgar Square sein. Die National Gallery war wohl noch offen. Auf einmal wollte ich Bilder sehen, sichere Stilleben. Schimmernde Tische mit Batisttüchern und ewiges, matt beschlagenes Silber und Gläser. Einen Granatapfel, ein Stück Brot.
    Ich rannte los. Die Straße dehnte sich. In einer enormen Hofeinfahrt stand eine berittene Garde. Dann drehte sich endlich von ferne der helle Platz. Ich nahm die Marmortreppen hinauf zu den Säulen. Der Saal der Flamen lag in einem hinteren Flügel. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Mit angespannten Schultern kreuzte ich den Raum der Impressionisten. Und es war fast schon geschafft, ein hohes Holzportal eröffnete die nächste Flucht, da zwang mich etwas stehenzubleiben. Es kam von hinten, wie etwas Giftiges, Phosphoreszierendes. Es mußte mich den ganzen Weg durch den Raum verfolgt haben. Ich drehte mich langsam um. Und natürlich, da waren sie, die furchtbaren Sonnenblumen, die französischen Hügel, der alte Arzt. Zu Tode gesehen. Jedes Bild das Echo eines Echos aus Küchen, Seniorenheimen, Sprechzimmern.
    Und da war das Licht, der Stuhl. Ein Stuhl.
    Ich kannte ihn nicht. Natürlich kannte ich ihn. Er kam dauernd vor. Dieser Holzstuhl des Südens, mit geflochtener Sitzfläche. Unverwüstlich, der Stuhl der Tavernen, der Straßencafés, der einzige Stuhl neben der kleinen Schlafstatt. Der gute Dritte in der Dreieinigkeit ersten Seßhaftwerdens: Tisch, Stuhl und Bett. Das Minimalprogramm Heimat.
    Jetzt hing er hier alleine, gleich am Eingang des Saals. Ich ging zu ihm zurück.
    Dieser lumpige Stuhl leuchtete. Ich trat ganz nahe an die schwere Kordel, die die Museumsbesucher zum Abstand zwang.
    Ausgeschlagene rote Steinfliesen. Vier staksige, leicht krumme Beine. Eine Sitzfläche aus Bast. Da wo das Flechtwerk zwei sich kreuzende Diagonalen bildete, lag eine Pfeife, daneben

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